Sunday, April 24, 2016

The Lightship, Jery Skolimowski, 1986

A rather odd project. I haven't read "Das Feuerschiff", but Lenz is a rather pedestrian author who's works are primarily used to torture German high-schoolers. The casting is rather weird, too, Brandauer's role is never fully developed, and the story about his son (including the rather indifferent voice over) feels strangely detached from the rest of the film.

However, Skolimowski's mastery proofs itself all the more in the way how effortless this works despite those (would-be) flaws. Like Leaud in LE DEPART, Duvall has virtually free rein in this, and in the first minutes after his arrival, the film seems to be in danger of derailing. But in both films Skolimowski finds a way to transform eccentric performances without constraining them.

In fact, both Duvall and Skolimowski play with their respective audiences inside and outside the diegesis. While Duvall introduces bored seamen to chaos theory, Skolimowski unobtrusively twists genre expectations. This is no thriller, no matter how much it looks like one on first sight - the action scenes are well done, but they're always an afterthought, not the main thing. It's also not a film about enclosed space, as the topography of the ship is never explored. Instead, THE LIGHTSHIP is a dark, tightly controlled mood piece centered around a completely deranged subjectivity, which affects everything it touches. Or rather, everything it talks to, in a low, soft, seemingly careless voice.

And then there's the scene with Forsyhte eating chocolate ice cream.

Friday, April 22, 2016

Twilight at Mac's Place von Ross Thomas

Die ersten drei McCorkle-Romane von Ross Thomas, entstanden 1966 bis 1971, sind geschickt konstruierte, im besten Sinne reißerische Spannungserzählungen, die fest verwurzelt sind in der Gegenwart des kalten Kriegs und seiner geopolitischen Nebenschauplätze. Der vierte McCorkle-Roman, nach einer Pause von fast 20 Jahren 1990 nachgelegt (und eigentlich gar kein McCorkle-Roman mehr, weil McCorkle nicht viel mehr zu tun hat, als einmal jemendem ein Bein zu stellen), ist etwas völlig anderes. Die Gegenwart wird überschwemmt von Vergangenheit; aber von einer Vergangenheit, die einem umso mehr unter den Fingern zerrinnt, je genauer man sie unter die Lupe nimmt. Die sich nach und nach als ein tödliches Nichts herausstellt, das alles verschlingt, was ihm zu nahe kommt.

Es gibt zwar noch einen "Fall", noch Leichen, die sich anhäufen, Verwicklungen, die durchdrungen werden wollen, aber was dabei genau auf dem Spiel steht, kann keiner mehr so genau sagen. Zumindest keine Zukunft, eigentlich auch keine Gegenwart. Kaum jemand trauert um die Toten, schon beim Begräbnis, mit dem der Roman beginnt, treffen nur drei Trauergäste ein, alle drei haben taktische Gründe für ihre Anwesenheit. Später entschuldigt sich die eine oder andere Figur: Ich wollte eigentlich, aber... Sie haben natürlich eh recht: Von den drei Trauergästen sind zwei bald darauf ebenfalls tot, wie als Strafe dafür, dass sie es wagen, sich selbst in der Geschichte, als historische Wesen zu positionieren.

Melancholisch ist das Buch höchstens gelegentlich an der rhetorischen Oberfläche (wobei die sardonischen Spitzen noch härter treffen als in den Vorgängern - "The sudden discomfort (...) was in the region where his heart was supposed to be"). Schon der Titel ruft keine nostalgische Sehnsucht auf, sondern bezeichnet eine Nivellierung: Es herrscht immer Dämmerung in Mac's Place. "[T]wilight (...) was precisely what was needed to flatter the features of customers over thirty, yet enable them to read the menu without striking a match. Customers under thirty (...) would regard the gloom as atmosphere, maybe even ambience". Für romantisch verwegene "customers under thirty" ist dieses Buch nicht geschrieben. Seine Perspektive ist die der ewigen Dämmerung des Servicekapitalismus, aus der man gelegentlich kurz heraustreten muss, um den reibungslosen Ablauf der Dinge zu gewährleisten. Genreliteratur, vom Ende der Geschichte her gedacht.

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Jemand hat seine Erinnerungen aufgeschrieben. Oder er hat behauptet, sie aufgeschrieben zu haben, bevor er überraschend gestorben ist. Auf diese Text gewordenen Erinnerungen richten sich allerlei politische und kriminelle Interessen, da vom Lebenslauf der Person auf ihre Erinnerung geschlossen wird. Schon das ist ein Fehler. Genauer gesagt geht es nicht um den Text selbst, sondern um sein Copyright. Lesen will ihn eigentlich von Anfang an kaum einer. Ein paradoxer Text hinter dem Text ist das: Einerseits kommt sehr bald der Verdacht auf, dass er gar nicht existiert (bzw aus Blindtext besteht), andererseits vervielfältigt er sich in Windeseile. ("The phrase 'only copy' has always bothered me").

Aber die eigentliche Pointe ist eine andere: Der Text existiert zwar tatsächlich, aber er ist die Aufregung, ist auch die Toten nicht wert. Eben weil der kalte Krieg, auf den sich die Erinnerung bezieht, nur noch das ist: eine Sammlung von Text. Mal mehr, mal weniger spannend, aber eigentlich völlig egal.

Thursday, April 21, 2016

Gérard Blain, zwei Einstellungen

Le pélican beginnt mit einer Reihung kurzer, oft auf einzelne prägnante Einstellungen reduzierte Szenen, die sich bald als subjektiv motivierte Rückblenden zu erkennen geben: Erinnerungsbilder, weniger idealisierte, als minimalistisch stilisierte, vielleicht archetypisierte Erinnerungen an ein glückliches Familienleben, insbesondere an eine glückliche Vaterschaft. Isoliert im Bild, vor einfarbigem, oft schwarzem Hintergrund: Ein Baby, ein Kinderwagen, ich glaube auch ein Blumenstrauß. (Wenige Erinnerungen an die Mutter des Kindes; später spielen weder sie, noch ihr neuer Partner zentrale Rollen im Film, sie bleiben bloße Plotpoints am Rande, die filmische Energie speist sich ausschließlich aus der Vater-Sohn-Beziehung). Ikonische Verdichtungen; aber seltsam säkularisierte Ikonen, näher am Produktdarstellungen in Versandkatalogen als am Mariengemälde.

Ein Bild stich in meiner Erinnerung heraus, auch wenn ich es nicht mehr exakt erinnere: Rechts sitzt der Vater am Klavier, links, tiefer im Bild, seine Sohn auf dem Boden, mit Spielzeug, ich glaube Legosteinen, beschäftigt. Das Bild bleibt eine Weile stehen, in natürlichem Gegenlicht, dazu die warme, und doch klassisch strenge Klaviermusik, eine luftige, ein wenig vergeistigte Vater-Sohn-Harmonie. Beide sind für sich, interagieren nicht miteinander, blicken sich nicht an, passen dennoch perfekt zusammen in den Rahmen der Einstellung.

Später greift der Film dieses Bild noch einmal auf, und bricht es analytisch auf, zeigt beide, Vater und Sohn, getrennt, in einzelnen Einstellungen, aus anderen, weniger distanzierten, außerdem gerichteteren, auf Subjektivität verweisenden Perspektiven. Ein erster Schnitt ist gesetzt, die Harmonie unwiederbringlich zerstört. Es tut sich ein Spalt auf, der immer breiter wird. Die Luganoepisode macht das besonders deutlich: Vater und Sohn sind nur noch durch einen Blick verbunden, passen nicht mehr in eine Einstellung, dazu keine harmonische Klassik, sondern Dudelmusik. (Leider finde ich die Popsongs nicht im Netz; immerhin habe ich herausgefunden, dass es sich um einen 8-track-player handeln muss, im Netz finden sich ein paar Bilder.)

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In Un enfants dans la foule gibt es eine Einstellung kurz vor Schluss, die eine eigenartige Form von Außenseiterschaft darstellt. Die jugendliche Hauptfigur wird von einem Pfarrer auf einen Hof geleitet. Dort spielen Gleichaltrige ausgelassen und konzentriert, sportlich enthemmt (Fußball vielleicht, oder ein tristes Nachkriegssurogat). Zuerst Schuss-Gegenschuss: Auf der einen Seite die spielenden Jungs, auf der anderen Junge und Pfarrer. Dann eine Synthese, die keine ist. Eine recht eng kadrierte laterale Kamerafahrt entlang des Gangs des Jungen, der über den Hof läuft. Die Kamera ihn auf nicht ganz leicht zu beschreibende Weise (denn es geht eben nicht nur um ein räumliches Verhältnis) vorbei an den Spielenden, die gleichwohl im Hintergrund zu sehen sind. Scharf kontrastiert zum Hintergrund, fast silhouettenhaft ausgeschnitten, das gleichwohl unlesbare Gesicht des Jungen. Die Kamerafahrt geht schließlich in einen Schwenk über, der den Jungen in eine Seitenstraße entlässt, der gleichzeitig aber das Bild normalisiert: Im Weggehen, in der Rückansicht, in seinem Verschwinden ist der Junge doch wieder einer von vielen.

Tuesday, April 19, 2016

Vermischtes zu vier Filmen von Gérard Blain

Le pélican, 1974
Un enfant dans la foule, 1976
Un second souffle, 1978
La rebelle, 1980

Die Hauptfiguren der vier Filme von Gérard Blain, die ich im Wiener Filmmuseum Anfang des Monats gesehen habe, werden von vier unterschiedlichen Schauspielern verkörpert, tragen vier unterschiedliche Rollennamen, befinden sich in vier unterschiedlichen Lebensstadien; und doch handelt es sich stets um denselben Protagonisten, um denselben Blick auf die Welt, vor allem: um dieselbe Verwicklung in die Welt.

Vier Männer, vier Lebensalter: frühadoleszent in Un enfant dans la foule, spätadoleszent in La rebelle, "in den besten Jahren" in Le pélican, schon etwas darüber hinaus in Un second souffle (deutscher Titel: "Ein Mann kommt in die [offentlichtlich nicht mehr besten] Jahre"). Zusammengenommen ergibt das allerdings gerade keinen Entwicklungsroman. Sinnhafte Entwicklungen, Dialektik, Lernen aus Erfahrung: All das bleibt den Filmen zutiefst fremd. Ihr Grundprinzip ist Akkumulation. Einerseits von Film zu Film, andererseits innerhalb der Filme von Szene zu Szene schichten sich Erfahrungen übereinander, die niemanden klüger machen. Akkumulation durch Wiederholung, fast mechanisch. Passend dazu die Musik, fast stets diegetisch: Plattenspieler und Kassettenrekorder (ein sonderbarer, runder, gelber spielt eine wichtige Rolle in Le pélican), die immer wieder dieselbe Musik abspielen.


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Der eigenartigste Film ist Le pélican. In dessen langem Mittelteil beobachtet ein Vater seinen ihm nach einem Gefängnisaufenthalt entrissenen Sohn in einer Villa in Lugano: Immer wieder derselbe Blick über dieselbe Hecke auf gelangweilten Familienalltag, immer wieder die gleichen drei Kassetten im gleichen gelben Kassettenrekorder, alles komplett stillgestellt, reine Akkumulation. Der Umschlagspunkt, den es dann doch gibt, ergibt sich nicht aus einem Zusammenhang von Reiz und Reaktion, oder Ursache und Wirkung - es ist einfach genug Masse da, genug Blickmasse, genug Kassettenrekordermasse, genug Familienlangweilemasse. Etwas passiert, aber geändert haben wird sich nichts.

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Der stärkste Film ist Un enfant dans la foule. Eine Jugend in und unmittelbar nach der Okkupationszeit. Auf der einen Seite drei Generationen von Frauen mit rotem, lockigem Haar: Oma, Mutter, große Schwester (am Ende eine gleichaltrige vierte, es setzt sich fort, akkumuliert sich). Auf der anderen Seite eine Serie von älteren Männern: ein deutscher Besatzungssoldat, ein amerikanischer Besatzungssoldat, ein erster, dandyhafter Gönner (dessen Wohnung absurd großspurig eingerichtet ist), ein zweiter, spießbürgerlicher Gönner. Dazwischen, in einem, angesichts der zahllosen Erwartungen, die an ihn gerichtet werden, erstaunlich souveränen Dazwischen: ein stiller, sturer, bockiger Junge. In der Schule trägt er einen lila Schal, der ihn sanft von seinen Altersgenossen abhebt.

In einer Schlüsselszene treibt die Nachbarschaft eine entkleidete, geschorene junge Frau durchs Dorf, zur Strafe dafür (zumindest behauptet die Meute dieses Motiv), dass sie sich während der Besatzung mit einem deutschen Soldaten zusammengetan hat. Er, dessen eigene Fraternisierung im Verborgenen geblieben ist, nähert sich ihr an; das einzige Mal im Film, vielleicht sogar das einzige Mal in allen vier Filmen, inszeniert Blain eine voraussetzungslose Begegnung.

Denn alle anderen Beziehungen in Blain-Filmen (und es geht in den Filmen um wenig anderes als um Beziehungen) sind mindestens auch Zwangsbeziehungen. Insbesondere geht es um intergenerationelle emotional-sexuelle Ausbeutungsbeziehungen, um Variationen des Sugardaddytums. Freundschaftlich-zärtliche Zuneigung, erotisches Interesse (wobei es in keinem der Filme eine Sexszene gibt, auch Nacktheit stets banal bleibt) und Machtspiele sind schwer voneinander zu unterscheiden, bilden Amalgamierungen, die von den Beteiligten kaum durchschaut werden können. Von Außenstehenden noch weniger: Der misstrauische Blick des Zimmermädchens in Le pélican auf Vater und Sohn, die gerade eine Nacht gemeinsam im Hotel verbracht haben. Die meisten Beziehungen werden offen ausgelebt; zumindest für den filmischen Blick sind sie alle gleich.

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Die Filme antipsychologisch zu nennen fällt leicht. Schwerer ist es, eine positive Bestimmung zu finden. Vielleicht geht es in ihnen um die Sehnsucht nach anderen, nicht-funktionalen Beziehungen. Die Figuren der Blain-Filme stehen nur auf den ersten Blick einigermaßen fest im Leben. Es fällt ihnen nicht schwer, Beziehungen einzugehen, das stimmt schon. Es gibt immer genug andere Menschen um sie herum, für die sie sich interessieren, und die sich für sie interessieren. Aber das Interesse ist immer ein bestimmtes, ein funktionales. Dadurch verschließen sie sich der Welt, die ihnen eigentlich offenstehen sollte. Ein widerkehrendes Bild dafür: zwei Menschen nebeneinander während der Autofahrt, auf Vorder- und Beifahrersitz. Die Kamera filmt ihre Hinterköpfe, die Welt jenseits der Scheibe verschwindet in Unschärfe. Eine doppelte Negation: keine Innerlichkeit, aber auch Weltbezug. Nur zwei Menschen, die aufeinander bezogen bleiben, obwohl sie sich nicht einmal in die Augen schauen mögen.

Monday, April 18, 2016

Die Verfehlung, Heiner Carow, 1992

"Es ist, als würden wir in der falschen Zeit leben", sagt, glaube ich, Angelica Domröse, der dieser Film mit Haut und Haaren gehört (oder besser: deren Haut und Haaren dieser Film gehört), zu Gottfried John, dem etwas ätherisch anmutenden Seemann aus der Nebelstadt Hamburg.

Das ist zuerst einmal eine interessante Bestimmung für den Film selbst, für einen Film, der vom Ende der DDR erzählt, und zwar: mit den Mitteln des DDR-Kinos. Nicht nur ist Die Verfehlung eine der letzten Produktionen der defa, der Film fühlt sich auch noch nach defa an, in seinen Texturen, in seinem Schauspiel, in seiner Ernsthaftigkeit.

Die defa-Filme waren stets mehr oder weniger explizit auf das Ideal einer sozialistischen Gesellschaft perspektiviert, ob diese nun als bereits verwirklicht, oder als noch (und vielleicht nur schwer) zu erreichendes Ideal gesetzt wurde. Das Gefühl von falscher Zeit in Carows Nachwendefilm hat damit zu tun, dass dieses alte Ideal nicht mehr gültig ist, dass es aber auch nicht durch ein neues ersetzt wird. Stattdessen gibt es nur die Faktizität von Geschichte: Herbst 1989 wird das alles zu Ende sein; also auf der einen Seite wird es dieses beengende, kleingeistige Land mit seinen trostlosen Matschstraßen, freudlosen Kneipen und verkramten Amtsstuben nicht mehr geben, auf der anderen Seite aber auch nicht die kleinen Freuden und Hoffnungen, die sich innerhalb dieses Lands (und sei es im Kampf gegen dessen Repräsentanten) offenbaren. Ein gesamtdeutsches Jenseits gibt es für diesen Film nicht, das macht schon sein Prolog klar. Der Film ist nicht melancholisch (dafür bedürfte es eines sentimentalen Resonanzraums), sondern im strengen Sinne hoffnungslos.

Time out of joint. Die DDR ist zu ihrer eigenen Kulisse geworden. Carow dreht im Osten, dreht auch mit dem Osten, im Abspann dankt er Sportvereinen und Theatertrupps, die in einigen der entscheidenden Szenen des Films Komparsen stellen. Aber schon die ersten Einstellungen, Flugaufnahmen über die Mondlandschaften des Braunkohleabbaus (ähnlich wie in Dominik Grafs Eine Stadt wir erpresst) am Rand des Dorfs, in dem Domröse lebt, rufen eine nicht einholbare Distanz auf. Die DDR ist ab sofort ein ästhetisches Objekt, und wenn sie sich hier noch fast selbst spielen darf, fällt die kleine Differenz, der Eindruck von Hingestelltem, von Kulissen und Gebautem, Nachgestelltem, nur umso herber ins Gewicht. Auch die Szenen, die in Ost-Berlin spielen: alles etwas zu eng kadriert, dass ja keine gesamtdeutsche, durchkapitalisierte Realität ins Bild ragt. (Außer natürlich da, wo das diegetisch so sein soll: John fährt selbstverständlich einen Mercedes).

Die Liebesgeschichte mit John dem sanften Hamburger Seemann ist gerade deshalb gelungen, weil sie nicht mehr sein will als ein Vorwand, ein kleiner Bewegungsimpuls, der Dinge sichtbar macht. Den anderen Mann, der an Domröse interessiert ist, den verbittert-brutalisierten Bürgermeister spielt Jörg Gudzuhn; ein deutlich prägnanterer Typ, aber das macht nichts, man kann gut nachvollziehen, warum sich Domröse stattdessen für das weichere Gesicht Johns entscheidet: Weil man darin eben gerade nicht lesen kann, weil es weder vom kapitalistischen Westdeutschland, noch von den fernen Ländern, die es bereist hat, direkt kündet, weil es noch formbar scheint (wie auch Domröse sich mehrmals formt, vor dem Spiegel).

"Es ist, als würden wir in der falschen Zeit leben" - als gesprochener Satz ist das freilich ein wenig schief und umständlich, auch darin, im Primat des durchformulierten Dialogs, verrät sich defa-DNA. Selbst die wutausbrüche sind rhetorisch überdeterminiert: Welche Organe, fragt ein Sohn Domröses den anderen, werden sich darum kümmern? Das Herz, die Niere? Nein, ich hab's, die Galle! Ich könnte kotzen, wenn ich Dich so reden höre.

Freilich hat auch das Überliterarische der defa-Sprache eine etwas andere Tönung als in älteren defa-Filmen. Auch an ihr sticht das Gemachte hervor, das Theaterdeutsch... das sich immer wieder, nicht immer psychologisch einholbar, in ein wütendes, lautes und gleichzeitig seltsam kraftloses Bellen fortsetzt. Vielleicht schreien sich die Leute bloß deshalb an, weil das ihre einzige Möglichkeit ist, sich gegenseitig ihrer Existenz zu versichern.

Die beiden Söhne sind der große Schwachpunkt des Films. Wie die einander gegenübergestellt werden, hier der brave Systemjournalist mit Musterfamilie, da der oppositionell eingestellte Sensible, das ist hochgradig schemachtisch. Und der alte defa-Schematismus funktioniert eben nicht mehr, weil es kein Koordinatensystem mehr gibt, in dem derart schematische Figuren doch wieder einen Sinn ergeben würden (wobei das die Art von Figuren sind, die in defa-Filmen immer schon eher genervt haben...).

Toll sind dagegen lange Szenen, in denen gar nichts für irgendwas stehen muss, in denen es einfach nur darum geht, zu zeigen, wie Domröse (als Schauspielerinnenkörper) an der falschen Zeit, der nicht wiederfindbaren Zeit scheitert. Während eines Trinkgelages mit einer Freundin, in Erwartung zweier Männer, die beide auf unterschiedliche Art fiktiv sind, während einer langsam, gewissermaßen zähflüssig eskalierenden Hochzeitsfeier, schließlich während einer surrealsozialistischen Parade der Werktätigen, die Carow in einem klugen Schachzug metonymisch ans Ende des Films und eines Staates stellt. Die DDR wirkt endgültig wie ein fremder Planet, irgendwann kollabieren dank optischer Effekte sogar die Grenzen der menschlichen Gestalt. Das Ende der Repräsentation, des eine Gemeinschaft repräsentierenden Kinos ist erreicht.

Monday, April 11, 2016

The Actress and the Poet, Mikio Naruse, 1935

In den Städten des japanischen Kinos der 1930er ist noch viel Platz zwischen den ihrerseits noch eher rumpelig-verkrampten, als luftig-aufgeräumten Häusern. Die Medien der Moderne wie Eisenbahnen und Postboten, die auf Fahrrädern auf den sonst von spielenden Kindern bevölkerten Brachflächen holpern, bilden ein eher loses Netzwerk, wichtiger ist der Nachbarschaftsklatsch, das durch-fremde-Fenster-Schauen. Mikio Naruses Komödie The Actress and the Poet schaut durch ein paar Fenster und kommt auf eine wunderbare Idee: Was man da sieht, sind Aufführungen. Oder Proben für Aufführungen.

Ein Ehepaar: Der Mann ist erfolgloser Schriftsteller, die Frau erfolgreiche Schauspielerin. Sie bittet ihren Mann darum, ihr bei der Probe ihres neuen Stücks zu helfen. In dem geht es darum, dass ein Ehepaar sich streitet. Der Mann ist erfolgloser Schriftsteller, die Frau erfolgreiche Schauspielerin. (Das Spiegelverhältnis ist damit noch lange nicht erschöpft, ganz im Gegenteil, es wird in diverse Richtungen ausgebaut, nebenan wohnen schließlich noch zwei andere Ehepaare...)

Der Streit verdoppelt sich: Beim ersten Mal ist er Probe, beim zweiten Mal echt. Oder auch nicht, denn die Frau hat sich kurz vorher bei ihrem Mann beschwert: Wir streiten uns ja nie, wie kann ich mich da in meine Rolle einfühlen? Der lediglich geprobte, abgelesene Streit hilft nichts. Nachdem sich der Streit mit fast identischen Worten, aber eben ohne Skript (wie sich das Spielen zum Schreiben verhält - auch darum geht es natürlich die ganze Zeit) wiederholt hat, sagt sie: Wunderbar, jetzt habe ich einen tatsächlichen Streit erlebt, jetzt kann ich die Rolle spielen.

Eine von vielen Fragen wäre dann: Wenn man am Ende sieht, dass die klassische Rollenverteilung wieder hergestellt ist, weil nicht mehr wie vorher der Mann, sondern die Frau das Frühstück zubereitet, ist das dann eine weitere Probe? Oder die Aufführung? (Und wenn letzteres: Eine Aufführung für wen?)

Saturday, April 02, 2016

Stella Maris von Marshall Neilan und Mary Pickfords Locken von Stefan Ripplinger

Stella Maris ist der dritte gemeinsame Film des Teams Mary Pickford (Hauptrolle, Produktion), Frances Marion Drehbuch), Marshall Neilan (Regie), Walter Stradling (Kamera), und in mancher Hinsicht der ambitionierteste. Zwar basieren alle fünf gemeinsamen Filme des Teams auf damals populären literarischen Vorlagen. Die anderen Filme des Quartetts nehmen diese Erzählungen allerdings eher als einen großzügig gehandhabten Rahmen, innerhalb dessen sich Freiräume für alles mögliche ergeben; man denke an die ausführliche Ali-Baba-Abschweifung in The Little Princess, oder an die eskalierende Zirkusnummer in Rebecca of Sunnybrook Farm.

Stella Maris ist nun zwar kein unfreier Film, ganz im Gegenteil hat auch er wieder ein wunderbares Gespür für Stimmungsmodulation, ebenso für visuelle Exzesse (die Mondlichtsequenz!). Aber seine Freiheiten sind deutlicher an die Zwänge des Alltags gekoppelt, sind gekennzeichnet als Freiheiten des Rollenspiels, Freiheiten des romantischen Überschwangs, Freiheiten des Kreatürlichen. Stella Maris ist in erster Linie fein gefügtes Erzählkino, das sich über eine Serie von Parallelmontagen und strukturellen Oppositionen entfaltet. Die zentrale Opposition ist die gespaltene Pickford: Die Hauptdarstellerin ist in einer Doppelrolle zu sehen, einmal als Titelfigur Stella Maris, da sieht sie so aus, wie es ihrem Star-Image entspricht, mit blonder Lockenpracht und glamourös illuminiert. Allerdings ist Stella Maris gelähmt, kann zunächst ihr Bett nicht verlassen. Die andere Pickford, ein bitterarmes Waisenkind, heißt Unity Blake und sieht wirklich vollkommen anders aus.

In gewisser Weise sind beide, Stella und Unity, so unterschiedlich sie zunächst erscheinen mögen, klassische Pickford-Figuren. Oder genauer, beide Figuren verkörpern - verkörpern im vollen Wortsinn, weil es in dem Film stärker noch als in anderen Pickford-Filmen immer wieder explizit um Arbeit am Körper geht - zwei Extreme der Pickford-Persona, Extreme, die in anderen Filmen durchaus miteinander kompatibel sind, die in Stella Maris jedoch übersteigert und in Isolation auftreten: Auf der einen Seite steht der glamouröse, von aller Welt vergötterte Hollywoodstar; auf der anderen der proletarische Underdog, der sich gegen die Domestizierung, die Verbürgerlichung sträubt. Man könnte auch sagen: auf der einen Seite steht Pickford als Bild, auf der anderen Seite steht Pickford als störrische Bewegungsenergie. Nebenbei bemerkt: In den Einstellungen, in denen sie gemeinsam im Bild sind, ist die eine Pickford fast einen ganzen Kopf größer als die andere, ohne dass das irgendwie unnatürlich wirken würde. Das spricht für die souveräne Handhabung der filmischen Mittel ebenso wie für die grundsätzliche Formbarkeit von Welt, an die das Pickford-Kino noch glaubt.

Es geht dem Film dann darum, die beiden Pickfords miteinander in Beziehung zu setzen. Dazu bedarf es nicht nur einem, sondern einer ganzen Reihe von Vermittlern, menschlichen wie tierischen. Tatsächlich spielen Tiere eine wichtige Rolle, insbesondere zwei Hunde. Einer der beiden hat tatsächlich second billing, ist also Pickfords offizieller Co-Star. Die zumindest für mich interessanteste Vermittlerfigur ist aber weder Teddy the Dog (on loan from Mack Senett), noch das von beiden Pickfords geteilte männliche love interest, sondern Louisa Risca, eindrücklich dargestellt von Marcia Manon. Das ist eine außerordentlich dunkle Figur, eine derangierte, gewalttätige Alkoholikerin, in gewisser Weise der einzig klassische, unrettbare Bösewicht in allen Pickford / Marion / Neilan-Filmen.

Aber interessanterweise ist es nicht der weiche, passive, schwächliche romantische Held, sondern eben Louisa Risca, die Unity Blake zunächst zu sich nimmt, die das Spiel mit der doppelten Pickford in Gang setzt. Und zwar, weil sie sich, in einer wunderbaren Szene früh im Film, selbst in ihr erkennt. Das wird ein Spiegelverhältnis etabliert, das sich bis in die Körperhaltung fortsetzt und das auf interessante Weise quer steht zur Spiegelung der beiden Pickfords. Fast wird Manon zu einer dritten, dunklen Pickford. Denn was den sozialen Stand angeht, ist Louisa Risca Stella Maris näher als Unity Blake; und auch ihr in einer Schlüsselszene spektakulär entfesseltes Haar wirkt wie eine manische Übersteigerung, eine Entformung der berühmten, glammourösen Pickford-Locken.

Das Frisurenproblem verweist auf einen Text, der meinen Blick auf die Pickford-Filme geprägt hat: Stefan Ripplingers kleines Buch Mary Pickfords Locken, erschienen 2014 im Verbrecher-Verlag, als Teil der ohnehin sehr schönen Reihe “Filit”. (Auch auf die besondere Qualität der Pickford-Marion-Neilan-Kooperation verweist Ripplinger explizit.) Mary Pickfords Locken ist keine umfangreiche Monographie, eher ein längerer Essay. Ripplinger selbst drückt das folgendermaßen aus: sein Text “kann keine filmhistorische Untersuchung und will keine Starbiographie sein. Er ist bloß eine Etüde über Bindung.”

Man kann das guten Gewissens in den Plural setzen. Es geht um Bindungen, um Bindungen zwischen einer Schauspierlerin und ihrer Rolle, zwischen dem Kinopublikum und einem Star, zwischen einer Tochter und einer Mutter. Und um ein Objekt, das all diese und wahrscheinlich noch einige andere Bindungen zusammenfasst und bezeichnet: eben Mary Pickfords Locken, ihr zentrales Markenzeichen, dessen Terminierung durch ein Friseurbesuch am 21. Juni 1928, Ripplingers Essay beginnt damit, weltweit Schlagzeilen machte.

Ich will nicht das komplexe Argument des Essays nachzeichnen, sondern nur auf eine der Bindungen, diejenige zwischen Pickford und ihrem Publikum hinweisen. Ripplinger beschreibt eine Ambivalenz: Auf der einen Seite gibt es ein Moment der Überidentifikation, weil ihre Fans Pickford immer wieder in derselben, kindlichen Rolle sehen wollen, also weniger die vielseitige Schauspielerin, als eine einzelne, von dieser Schauspielerin erschaffene Figur lieben. Auf der anderen Seite liest Ripplinger diese Überidentifizierung gerade nicht als Indiz für falsches Bewußtsein. Statt dessen beschreibt er Pickfords Kino als ein Spiel mit dem Publikum, ein Spiel, das fantasmatische Elemente hat, aber trotzdem von beiden Seiten als Spiel durchschaut wird.

Pickfords Publikum will mit ihrer Figur träumen, aber es besteht auf einer Wahrheit des Traums: “Dream true” heißt es in The Little Princess. Das bedeutet zum Beispiel auch, dass die Klassenschranken, um die es in allen Filmen von Pickford, Marion und Neilan, und ganz besonders in Stella Maris geht, zwar nicht im strikten Sinne unüberschreitbar sind, aber doch immer, auch noch im Happy End, sichtbar bleiben. Pickford ist für ihr Publikum keine Wunscherfüllungsmaschine, keine Gehilfin einer rein eskapistischen Fantasie; eher eröffnet sie einen Möglichkeitsraum in den Ambivalenzen, die ihre Figur verkörpert: und die spannen sich nicht nur zwischen arm und reich auf, sondern auch zwischen kindlich und erwachsen, weiblich und männlich, Bild und Bewegung, Glamour und Schmutz.

Darin, in diesem Spiel mit Identität und Illusion, liegt, mit Ripplinger gelesen, die Modernität dieser Filme, denen oft Sentimentalität, gelegentlich auch ein Hang zu viktorianischem Moralisieren vorgeworfen wurde - Beides ist in den Filmen und vor allem in den zugrunde liegenden literarischen Stoffen, zweifellos vorhanden, insbesondere der Schlag ins Viktorianische wird aber von Pickfords Spiel und der spielerischen Inszenierung Neilans systematisch durchkreuzt.

Stella Maris zeigt, dass diese spezifische Modernität des Pickfordkinos nicht nur die Pickford-Rollen selbst betrifft. Denn selbst eine auf den ersten Blick abjekte, offen asoziale Figur wie Louisa Risca ist nicht das böse Andere des Pickford-Kinos, sondern Teil eines reflexiven Spiels von Differenz und Ähnlichkeit.