Wednesday, January 01, 2014

Report from the Interior von Paul Auster

Die vier Teile des Buchs ("Report From the Interior", "Two Blows to the Head", "Time Capsule" und "Album") heben sich streng voneinander ab. Den letzten Teil, der Fotografien mit Zitaten aus den ersten drei Teilen auf langweilig literale Art kombiniert und der mir auch sonst nicht recht einleuchten will (die Montagen gelingen teils ganz gut, immerhin), beiseite gelassen, scheint mir das Buch da am interessantesten, wo es literarisch am problematischsten ist. Und da am uninteressantesten, wo es literarisch am stärksten oder wenigstens am rundesten ist.

Was nicht heißen soll, dass mir der erste Teil, der so heißt, wie das Buch insgesamt, die Erinnerungs/Innerlichkeitssplittermontage (das ist die besondere Crux: erinnert werden soll nicht zuerst das äußere, sondern dessen Rückhall im Innern) "Report From the Interior", nicht gefallen hätte. Von Anfang an hat mir der offenherzige Tonfall zugesagt, der weitgehende Verzicht auf Selbststilisierung, auf Originalitätsbehauptungen auch: Ein Leben erst einmal wie jedes andere, alle Spezifizierungen und Besonderungen müssen irgendwoher kommen, von irgendwelchen Sinneseindrücken und von irgendwelchen Erlebnissen, beides nicht mehr zugänglich für den Autor, der notwendig in seiner Gegenwart schreibt. Deshalb hat jede Auswahl, die aus dem Pool der Erinnerungen getroffen wird, einen Aspekt von willkürlicher Setzung. Auch in dieser Hinsicht hat mir Austers Entscheidung eingeleuchtet, nicht in der ersten, sondern in der zweiten Person zu schreiben, sich selbst als einen anderen, aber in der direkten Hinwendung zu konstruieren. Ebenfalls sympathisch ist die Konsequenz, die diese Entscheidung bis in die Inkonsequenz durchhält: Da Auster auf einen Diskurs hinstrebt, der auf sich selbst hin durchsichtig ist (was natürlich stets umso augenfälliger scheitert, je angestrengter es versucht wird) schreibt er auch über sein aktuelles Schreiben und nennt auch den aktuellen Schreiber: "You". Wo genau die Grenze zwischen "You" und "I" liegen könnte, wird immer unklarer, erst recht in Teil 3.
Was an Teil 1 manchmal problematisch ist: Dass es erkennbar zwei widerstrebende Bemühungen gibt, weil zum einen die Erinnerungs/Innerlichkeitssplitter als Splitter, also losgelöst und freischwebend präsentiert werden sollen, dass andererseits aber doch die Geschichte einer Prägung erzählt wird, noch ärger, einer Prägung, deren Resultat das Schreibende Ich zu kennen glaubt (und gleichzeitig schiebt das schreibende Ich dieses Wissen im Wechsel zum "You" wieder von sich weg...). Und dass dieses Widerstreben selbst nicht deutlich herausgearbeitet ist, nicht selbst Form wird.

Die beiden folgenden Kapitel lösen das Problem, indem sie Widerstände einbauen in Form von Objekten, die sich außerhalb der literarischen Selbstgesprächs befinden. Teil 2 "Two Blows to the Head" besteht aus zwei Filmberichten: Der junge Paul Auster war erst von Jack Arnolds "The Incredible Shrinking Man" tief beeindruckt, ein paar Jahre später von Mervyn LeRoys "I Am a Fugitive from a Chain Gang". Durchaus irritierenderweise sind das jeweils eher Filmnacherzählungen als Filmerlebnisnacherzählungen: Genaue Beschreibungen der Handlung und (seltener) der formalen Gestaltung, durchsetzt lediglich mit eher kurzen Hinweisen auf damals besonders eindrückliche Szenen und, ein wiederkehrendes Motiv, Antezipationen, die dann vom Film wiederlegt werden: Aha, jetzt wird also alles doch noch gut. Und dann kommt der Film und macht alle Hoffnung zunichte. Denn darum geht es, folgt man der Rekunstruktion Austers, in beiden Filmen: Um die Zertrümmerung aller Sicherheiten, aller metaphysischen Sicherheiten im Fall des Arnold-Films, aller sozialen Sicherheiten im Fall des LeRoy-Films. Erst aus Perspektive dieser Filmlektüren gewinnen auch die Motive des ersten Buchteils stärker Kontur, die Prägung nicht als ein Sich-Verankern in der Welt fassen, sondern ganz im Gegenteil als einen Sturz ins Nichts.
Offensichtlich hat Auster die Filme, bevor er das Kapitel geschrieben hat, noch einmal gesehen. Vielleicht sogar: während er es geschrieben hat, Szene für Szene. Er beschreibt das Kondensat einer wiederholten und wiederholbaren Seherfahrung, an die nur gelegentlich jene Erinnerungs/Innerlichkeitssplitter andocken, die im ersten Kapitel etabliert worden waren. Anders als im deutlich uninteressanteren (abgesehen vom Kapitel zu Barthes) Filmerinnerungsbuch "The Remembered Film" von Victor Burgin geht es nicht darum, zu zeigen, dass die Erinnerung selektiv auf Filme zugreift, sie zersetzt und dadurch verändert etc. Der Punkt bei Auster ist gerade, dass der Film ist bleibt, was er ist und dass er in all seine felsenfesten Konstanz dazu geeignet ist, ganz im Gegenteil das Subjekt, das mit ihm Konfrontiert wird, zu verstören, wenn nicht zu zertrümmern. Das wäre eine geeignete grammatikalische Kippstelle: Das "I" vor dem Film ist nicht dasselbe "I" wie das "I" nach dem Film und wird deshalb zum "You".

Der dritte Teil des Buchs, "Time Capsule", ist der problematischste, aber vielleicht gleichzeitig der interessanteste. Er besteht aus Briefen, die Auster Anfang 20 seiner ersten Frau geschrieben hat, teils während Reisen in verschiedenen Teilen der USA, teils während eines mehrmonatigen Paris-Aufenthalts. In den Briefen wird das "You" der ersten beiden Teile, das gleichwohl in einordnenden Passagen ebenfalls präsent bleibt, zum "I". Wo die Filmerfahrungen nur kurz und betont oberflächlich kontextualisiert werden, beschäftigt sich der dritte Teil explizit mit "biography building", die Vorbemerkungen zu den Briefen sind nicht selten deutlich länger als diese selbst. Wiederum, wie in Teil 1, ist schön, dass der Auster von heute den Auster von damals nicht stilisiert, auch nicht zu entschuldigen sucht, dass er auch dann nicht peinlich berührt von ihm zu sein scheint, wenn es durchaus Anlass dazu gäbe.
Noch deutlicher als in Teil 2 tritt das (produktive) Missverhältnis zwischen den (Selbst-)Imaginationsakten der Erinnerung und der Evidenz von Objekten (das im vierten Teil des Buches für meine Begriffe grundfalsch aufgelöst wird; aber vielleicht sehe ich da auch irgendetwas nicht), an die sich Erinnerungen binden, hervor. Die Briefe können, anders als Filme, nicht nur nacherzählt, sondern wortwörtlich zitiert werden. Noch dazu handelt es sich jetzt um Evidenzen, die direkt auf Innerlichkeit verweisen. Und die von Auster, das ist irritierend, aber möglicherweise die große Stärke dieses Kapitels, auch genau so behandelt werden: Als materielle Beweisstücke, die einen Blick in die sich selbst fremd gewordene Seele erlauben. Die "bei Licht betrachtet" (aber das Licht wäre ein falsches) nur wenige Wochen dauernde und nicht allzu spektakuläre Paris-Episode, in der Auster das Studium abbricht, sich einem obskuren Filmprojekt zuwendet und schließlich doch wieder die sichere Variante wählt (USA, Fortsetzung des Studiums), wird in den Briefen zu einem weiteren existenziellen Abgrund, zu einem weiteren Sturz ins Nichts. Und der Auster von heute erkennt, dass er kein Recht hat, da irgendetwas wegzuerklären oder zu relativieren.

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