Wednesday, August 31, 2011

Lee Child: Die Trying

"And whatever else he was, Reacher knew he was a rational man."

may contain spoilers

Nach Ekkehards cargo-Text und einer Empfehlung von M. habe ich Lee Childs Reacher-Romane entdeckt. Schon der erste Band Killing Floor ist toll, umgehauen hat mich dann der zweite: Die Trying, ein unglaublich dicht konstruierter Thriller, eigentlich eine einzige Bewegungsstudie: ein Vektor von Chicago nach Montana als Grundprinzip. Reacher und sein love interest bewegen sich über mehr als 100 Seiten - ohne es zu wissen - in einem Lastwagen entlang des Vektors, das restliche Personal richtet sich nach und nach an ihm aus. Im ersten Teil sind Bewegung und Geschwindigkeit verfügbar, das Problem ist das mapping. In der Deckplane des Lastwagens sind Einschusslöcher, deren Muster eine maximal abstrahierte Karte entfalten: "Each hole was a bright point of light. Like a mathematical proposition. Total light against the total dark of the surrounding sheet metal. Light, the absence of dark. Dark, the absence of light. Positive and negative."
Bis irgendwann alle in Montana sind, in einem abgelegenen Bergtal, wo plötzlich jeder Schritt Schwierigkeiten bereitet. Das mapping ist dank Satellitenbildern perfekt (andererseits: nur scheinbar; einige Karten sind veraltet), visuell ist jetzt alles verfügbar, das Problem sind Bewegung und Geschwindigkeit. Bäume stoppen Panzer, einmal bleibt Reacher um ein Haar in einem Erdloch stecken.
Der Plot um eine rechtsradikale Miliz, die nahe der kanadischen Grenze einen eigenen Staat ausrufen möchte, könnte einem 80ies-B-Movie entlehnt sein, bis hinein in die einzelnen Set-Pieces: ein Kampfhubschrauber, der mit einer Stinger-Rakete vom Himmel geholt wird, explodierende Lastwagen in der Wüste, Vergewaltigungsversuche in der Scheune, eine Kreuzigung im Wald. Konstruiert ist Die Trying in atemberaubenden, ineinander verschränkten Parallelmontagen, die erst ganz am Ende, wenn sich das Verhältnis von mapping und Bewegung ein weiteres Mal dreht, aufgelöst werden.
Das erstaunliche an Lees Büchern ist die Art, wie die einzelnen Situationen analysierend durchdrungen werden. Ekkehard hat das in seinem cargo-Text und noch etwas ausführlicher hier beschrieben. Eine Welt, die maximal verfügbar erscheint, weil sie von Anfang an nur als Verfügungsmasse gedacht ist. Lee schreibt einerseits immens "filmisch" (siehe alleine die Parallelmontagen), andererseits kann ich mir gerade deswegen kaum eine angemessene Verfilmung vorstellen: weil da kein Platz scheint für Nichtfunktionales, für den Realitätsüberschuss, für Bazin und Kracauer; vielleicht am ehesten wäre der Stil in einen no-nonsense-Animationsfilm übersetzbar. Wenn schon ein Realfilm, dann bitte nicht mit Tom Cruise als Reacher. Mein Favorit wäre (obwohl die körperlichen Attribute überhaupt nicht passen): Wentworth Miller.
Christian Petzold im Gespräch mit Rainer Knepperges und Stafan Ertl (bezogen auf Charles Willeford): "Das ist das großartige an amerikanischen Kriminalromanen, dass sie Behältnisse für Alltagswissen sind." Auch bei Child kann man z.B. lernen, dass Handwerker oft unbrauchbare Werkzeige und ähnlichen Schrott im Hohlraum hinter einem Waschbecken zurücklassen, aber sonst interessieren sich die Bücher weniger für das quotidian, mehr für abstraktere Formen des Wissens, die dennoch in der Lage sind, eine ganze Welt zu durchdringen und abzubilden. Mehrmals tauchen aufwändige, mehrere Seiten lange Beschreibungen einzelner Gewehrschüsse auf: die Justierung, die körperliche Vorbereitung des Schützen, der Weg der Kugel, das Ineinandergreifen von Organik, Mechanik und Physik. Mir kommen diese Passagen wie der eigentliche Kern des Romans vor, weil in ihnen die beiden grundlegenden Konstuktionselemente mapping und Bewegung unmittelbar in eins fallen.
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Den dritten Band Tripwire habe ich auch schon fast zu Ende gelesen. Er ist wieder etwas offener und ähnelt darin dem ersten. Großartig ist auch der. Früh im Buch gibt es eine kurze Passage, kaum mehr als eine Seite lang, die die gesamte Filmgeschichte als Industriegeschichte aufrollt: von der Pionierapparatur um die Jahrhundertwende über Breitbild, TV, Super 8, home cinema bis in die digitale Gegenwart.

3 comments:

Jochen S. said...

Mich hat Ekkehard damit auch angesteckt, und ich hab im Winter die ersten acht Bände hintereinanderweg gelesen. Großartiger Autor.

Sebastian Markt said...

Dass es keine filmische Form gäbe, die dieser Poetik gerecht werden könnte, da bin ich mir nicht so sicher. Aber Tom Cruise als Jack Reacher? Seriously?

Lukas Foerster said...

Ja, ein fürchterlicher Gedanke. Da kann man nur hoffen, dass das Projekt für immer in der development hell verschwindet.