Saturday, December 26, 2009

Take Aim at the Police Van, Seijun Suzuki, 1960

Durchs Zielfernrohr geraten Schriftzeichen auf Schildern, die entlang der Landstraße aufgestellt sind, in den Blick: "Many Accidents" ... "Have Occured" ... "in this Area" ... "Caution". Dann der Titelschriftzug "Take Aim at the Police Van". Im Police Van, dem der Blick durchs Zielfernrohr - das bestätigt bereits der eingeblendete Filmtitel - eigentlicht gilt: ein Gangster, der "Aki" mit dem Finger ans beschlagene Fenster schreibt.
Um "Aki", beziehungsweise "Akiba" geht es dann im Weiteren. "Akiba" steht ein für den Boss eines Menschenhändlerrings (ein menschenhändlerring ist dem Film eine Organisation, der es gelingt, ein knappes Dutzend junger Frauen in einen KLeinwagen zu sperren), "Akiba" ist aber nicht einfach der Name dieses Bosses, dem der Film bis zur Schlusszene kein Gesicht und keine Identität verleihen möchte. "Akiba" ist zuerst nur ein freischwebender Signifikant und Suzuki gibt sein bestes, diesen Zustand möglichst lange aufrecht zu erhalten.
"Akiba" ist eine Zeichenfolge, der im Film lange nur ein Paar Schuhe und einige seltsame Subjektiven entsprechen. Zeichen (Schrift / ikonische Symbole) und das, woran sie sich heften: Ein Kleinkrimineller leugnet erst, am Prostitutionsgeschäft beteiligt zu sein. Der Held greift ihm an den Hals, wendet seine Krawatte, entdeckt die schematische Zeichnung einer nackten Frau, enttarnt ihn. Ein anderer Kleinkrimineller hat eine Tasche bei sich mit der Aufschrift: "No U-Turn". Die schwenkt er wie wild und die Kamera freut sich immer, wenn die Schrift im Bild ist. Die ist dann auch Anlass für gleich mehrere Scherze und tatsächlich gelingt Goro, dem Besitzer der Tasche, der U-Turn aus der Kriminalität heraus nicht.
Wie Goro wieder und wieder die Tasche schwenkt: eine kleine erratische Geste unter vielen. Ein Mädchen räkelt sich sehr ausdauern hinter einer Zeitung. Der Held kehrt, als er die Kneipe verlassen will, noch einmal kurz um, läut an den Tresen, blickt in die Kamera, verschwindet endgültig. Nicht nur die Regie ist eigensinnig, Suzukis Figuren sind es auch und vor allem: sie sind es auf etwas andere Weise als die Regie. Vielleicht ist das einer der Gründe dafür, dass Suzukis Filme so großartig sind.

Thursday, December 10, 2009

Cronaca di un amore, Michelangelo Antonioni, 1950

Wahrscheinlich ist es nicht besonders sinnvoll, den ersten Langfilm Antonionis vor allem auf Spuren der späteren, kanonischen Antonioni-Ästhetik zu befragen und das, was nicht in dieser aufgeht, als vernachlässigbaren Überschuss abzutun. Dennoch scheint mir zumindest der Noir-Plot (der recht leicht als James M. Cain-Variation zu identifizieren ist, nicht nur, weil Massimo Girotti seine Rolle aus Ossessione wieder aufgreift), der den Film auf den ersten Blick prägt, etwas zu sein, was - auf interessante Art - von außen in das Antonionische Werk hineinragt. In der Tat tritt der Detektiv, der in den Film einführt und in der Vergangenheit Paolas stöbert, bald in den Hintergrund, taucht eher pflichtschuldig alle Viertelstunde kurz auf, führt ein Telefonat oder schreibt einen Brief und verschwindet wieder. Am Ende desintegriert die Kriminalerzählung völlig: Ob das Knallen in der Dunkelheit ein platzender Autoreifen ist oder der Schuss einer Pistole, interessiert den Film ganz einfach nicht mehr.
Es kommt mir so vor, als ob Antonioni in Cronaca di un amore sein Material noch nicht vollständig unter Kontrolle hat. Die einzelnen Elemente stehen noch etwas quer: der erwähnte Noir-Plot, die neorealismo-Zeichen, um die man in einem ambitionierten italienischen Film aus dem Jahr 1950 wohl einfach nicht herum kommt, schließlich das zentrale Charakterdrama, das sich zwischen Paola (Lucia Bosé) und Girottis Guido entfaltet. Der Film stellt heterogenes Material gegen- und nebeneinander, ist aber deswegen nicht ein bisschen chaotisch. Das zentrale bourgeoise Melodram ist hier über die Biografie der Hauptfigur noch an eine neorealistisch konnotierte working-class-Vergangenheit angebunden (auch in Le amiche, einem weiteren frühen, freilich weitaus weniger gelungenen Antonioni, findet sich ein ähnliches Motiv, das Antonioni in die Nachbarschaft Rossellinis rückt; allein seine beiden Kurzfilme N.U. und Gente del Po machen deutlich, dass der Regisseur vom nerorealismus nocht nur beeinflusst, sondern einer seiner Protagonisten war). Die beiden sozialen Sphären fügen sich nicht harmonisch in-, sondern stehen schroff nebeneinander. Genauer: man benötigt schon einen Privatdetektiv, um sie gemeinsam in den Blick zu bekommen. (Der Privatdetektiv im klassischen Hard-Boiled-Roman hat btw gelegentlich eine ähnliche Funktion; bei Chandler und Hammet eher nebenbei, bei Ross Macdonald viel expliziter.)
Großartig sind schon in diesem ersten Film die Sequenzen, die das Herzstück des Antonionischen Werkes darstellen: Die Dialoge der beiden sich immer wieder ver- und entliebenden Hauptfiguren, aufgelöst in Szenen mit jeweils sehr wenigen, fließenden Kameraeinstellungen. Deren schönste beschreibt einen 180°-Drehung auf einer Brücke in einer einzigen Einstellung. Eine andere derartige Szene ist um den Aufzugsschacht eines Treppenhauses herum konstruiert, die meisten spielen in Schlafzimmern. Anders als in der Eröffnungssequenz von L'eclisse gibt es in Cronaca di un amore nur wenig, was zwischen das Paar gerät. Dominiert werden die Zimmer von den jeweiligen Betten. Mal liegt er darauf, mal sie, mal keiner, selten beide.
Die Art, wie sich die Kamera zu den beiden Figuren verhält, ähnelt dem Verhältnis der Figuren zueinander. Beide Verhältnisse sind konstant nur in ihrem Wandel. Die langen Einstellungen setzen nicht nur zwischenmenschliche Verhandlungen ins Bild, sie stellen selbst Verhandlungen dar. Verhandlungen über Natur, Sinn und Zweck von Kommunikation, über die Voraussetzungen und Bedingungen der sozialen Konventionen, in denen sich Liebe zwangsläufig artikulieren muss. Verhandlungen durch stetiges Reframing. Mal liegen beide nebeneinander, mit den Rücken zur Kamera, dann stehen sie sich gegenüber, oder sie stehen hintereinander, sie hat den Kopf abgewandt, er insistiert auf der eigenen Präsenz, die Kamera folgt den Figuren nicht einfach, sie verhält sich in ihren Bewegungen zu ihnen.
Das Folgende mag banal klingen oder auch sein, egal: Dass es in Antonionis Filmen um von sich selbst und von anderen entfremdete Individuen, um "leeren Raum" und misslingende Kommunikation geht, dieses Klischee stimmt nicht einmal im Fall von L'eclisse oder L'avventura. Antonionis Räume sind nur selten leer und erst recht nicht ist diese Leere jemals einfach nur nihilistisch / existentialistischer Kommentar, Versinnbildlichung einer anderen, inneren, psychischen Leere. Antonionis Räume sind soziale Räume, von denen die Illusion ihrer unproblematischen Lesbarkeit abgezogen ist, die aber dennoch nie außerhalb von Sinn und Bedeutung stehen. Noch weniger zeigen die Filme einfach nur das Misslingen / die Abwesenheit von Kommunikation. Statt dessen zeigen sie Kommunikation als das, was sie ist: als einen sozialen Prozess mitsamt Redundanzen und Rauschen, als einen Prozess vor allem, an dem mindestens zwei menschliche Körper im physikalischen Raum beteiligt sind. Dieser Prozess verlangt bei Antonioni nach der Plansequenz und nicht nach der Montage, weil letztere tendenziell von Körpern und Räumen zugunsten einer "reinen" Bedeutung abstrahiert. (Die Montage bleibt dem Film weitgehend äußerlich, wenn einige Schnitte eine direkte Analogie zwischen dem Mann und dem Liebhaber nahelegen, wird diese im weiteren Verlauf nie eingeholt.) Gerade die Art Gespräch, die Antonioni bevorzugt, könnte in entkörperlichter und enträumlichter Form automatisch auch keine genuine Bedeutung mehr transportieren. Das heißt auch: der Vulgärexistenzialismus, den sich die Filme - allen voran I vinti - selbst auf die Fahnen schreiben, bleibt ihnen in letzter Instanz ebenso äußerlich wie die Vulgärpsychoanalyse den Filmen Hitchcocks.

Wednesday, December 09, 2009

Seinfeld desintegriert...

...doch ein wenig in den letzten beiden Staffeln nach Larry Davids Rückzu als show runner. Manchmal auf sehr interessante ("The Bizarro Jerry"), manchmal auf weniger interessante Weise. Insgesamt scheint die Serie sich, auch wenn nach wie vor jede Folge großartige Momente hat, etwas zu wohl zu fühlen in ihrem eigenen Universum, die Figuren verwandeln sich in ihre eigenen Klischees. Ausnahme: Jerry selbst, dessen zunehmende Infantilisierung ist eine durchaus konsequente Entwicklung. Am unglücklichsten ist Georges Entwickung. Dessen schemes werden immer bizarrer, sein web of lie nimmt immer abstrusere Ausmaße an, aber das existenzialistische Verzweifeln an der eigenen Existenz ist nicht mehr ihre Rückseite und Antriebskraft. George hat sein Zentrum verloren, nämlich die pure negative Energie, die ihn und die Serie vor allem in den Staffeln drei bis fünf in wahnwitzige Gefilde trieb.
---
Das Verhältnis der Serie zum Kino wäre eine nähere Untersuchung wert. Ob es um reale Filme geht (die legendäre Schindler's List-Folge, die The English Patient-Folge, Spartacus) oder die zahlreichen fiktiven Filmtitel: Ich kenne keine Serie, in der ähnlich oft ins Kino gegangen wird. Cinephil ist Seinfeld deswegen natürlich noch lange nicht. Keiner der Beteiligten hatte eine nennenswerte Kinokarriere, auch ästhetisch ist Seinfeld nicht deswegen interessant, weil die Serie sich in Richtung "cinematic television" orientieren würde. Nein, das ist durch und durch Fernsehen, was da passiert. Wenn Seinfeld über das Kino spricht, tut die Serie das meist ironisch, manchmal wohlwollend und immer aus der Position eines Mediums, das sich seines historischen Sieges über den Kontrahenten sicher ist.

Friday, December 04, 2009

The Promotion, Steve Conrad, 2008

Was man in dem Supermarkt, in dem The Promotion zu weiten Teilen spielt, am wenigsten sieht, sind die Kunden. Die tauchen lediglich über Beschwerdebriefe auf, die sie auf dem Parkplatz vor dem Markt einwerfen. Der Kunde ist eine reichlich abstrakte Entität in diesem Film, eine, die den Mikrokosmos Supermark antreibt und die dessen Rechtfertigung darstellt, von der dieser Mikrokosmos aber am leichtesten zu abstrahieren vermag - und der Film auch. Folglich ist The Promotion kein Film über den Neoliberalismus, sondern ein Film über das Leben im Neorealismus. Der Supermarkt interessiert als Biotop, als Versuchsanordnung im sozialen Raum. Die Kunden sind mobil, sie gelangen über den Parkplatz in den Markt und verschwinden auf demselben Weg. Die Kunden werden auch für einen wie Doug (Seann William Scott, immer brav gekämmt und oft nervös lächelnd) nie zum Problem. Dafür aber alle anderen.
Die schwarzen Jugendlichen (Gangmitglieder wäre etwas hoch gegriffen, es fliegen schließlich lediglich Kakaoflaschen) lauern auf dem Supermarktparkplatz und lassen sich von Doug nicht vertreiben. Die schwulen, banjospielenden Nachbarn lauern im Appartment nebenan. Ein dunkeläutiger Schnauzbartträger starrt durchs Wohnzimmerfenster auf Doug und seine Frau (Jenna Fischer, die hier mehr oder weniger ihre Rolle als durch und durch lauwarmes Objekt der Begierde aus The Office weiterführt). Diese Frau wiederum könnte, wenn es Doug die angestrebte Beförderung nicht erreicht, bald mehr verdienen als er selbst. Die Kassierer, die er zu beaufsichtigen hat, haben ebenfalls dunkle Hautbarben und an ihrem Arbeitsplatz haben sie eindeutig mehr kulturelles Kapital als Doug. Doug fährt mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit. Auch hier gibt der weiße Heteromann nicht mehr den Ton an, eigentlich müsste er Auto fahren, doch als er einmal in ein Auto einsteigt, gehört das seinem kanadischen Kollegen und Kontrahenten Richard (wieder einmal großartig: John C. Reilly als White-Collar-Aspirant wider Willen). Und der hat es noch viel schwerer als Doug. Prekäres Mittelklasseleben und ethnische Spannungen als awkward comedy.
Für einen wie Doug müssen die Transformationen des Amerikas der Gegenwart wie ein langsames aber nicht mehr aufzuhaltendes fade to black erscheinen. Und Doug weiß, dass er kein early adapter ist. Der einzige Ausweg ist der gesellschaftliche und ökonomische Aufstieg. Ein eigenes Haus würde räumliche Distanz schaffen. Das Board of Directors der Supermarktkette ist und bleibt auch noch bis auf weiteres weiß. Ein Refugium für einen, der das offene Visier scheut eher denn ein Karriereziel für das Subjekt des Neorealismus, das Doug natürlich trotzdem irgendwie ist. Toll, wie der Film es schafft, Doug in seinem Bestreben weder zu affirmieren, noch zu diskreditieren. Der macht einfach nur das, was ein Mann mit seiner Hautfarbe und seiner Frisur in seiner Situation zu tun hat.
Ich kann mich nicht an viele Filme der jüngeren Vergangenheit erinnern, die sich auf so interessante Art und Weise wie The Promotion - nominell nur eine unter vielen Komödien irgendwo zwischen Indie und Mainstream - auf die vor allem multiethnischen Realitäten Amerikas eingelassen hätte. In einer großartigen Szene hält Doug eine Rede in einem afroamerikanisch geprägten Community Center, die zu einer komplexen Verhandlung soziokultureller Selbstverständnisse wird. Seine genau klakulierten Scherze funktionieren zwar nicht wirklich, sie zeigen aber genau so viel guten Willen, wie nötig ist, um das angespannte Verhältnis zwischen Community und Supermarkt (nicht: zwischen Supermarkt und Kundschaft) ein wenig zu entspannen. Dann allerdings kommt Richard und erzählt etwas von einem "black appel"... So lange der US-Komödie Szenen wie diese im Community Center gelingen, wird sie die relevanteste Spielart des nordamerikanischen Kinos bleiben.

Wednesday, December 02, 2009

Historias extraordinarias, Mariano Llinás, Argentinien

Hat man sich aus irgendeinem Grund in den Kopf gesetzt, das aktuelle Weltkino auch in seinen anstrengenderen, abstruseren Varianten zu erschließen, dann muss man den Filmen oft sehr weit entgegen kommen. Zumindest geht mir das so im Fall von Werken wie Historias extraordinarias. Nach einer halben Stunde hatte ich beschlossen, nicht das Kino zu verlassen, sondern den Film interessant zu finden. Damit das auch so bleibt, musste ich mich selbst im weiteren immer mal wieder an diesen initialen Beschluss erinnern. Und wie kann ich den Beschluss rechtfertigen? Unter anderem rückwirkend mit einem Text wie diesem hier.
Historias extraordinarias wagt viel und mehr als alles andere hat mich Llinás' Wagemut im Kino gehalten. Dass der Film aber tatsächlich auch ästhetisch so quer zum restlichen argentinischen Kino liegt, wie er es in produktionstechnischer Hinsicht tut, glaube ich nicht so ganz. Es tauchen doch immer wieder Bilder auf, die man aus konventionalisiertem Festivalkono zu kennen glaubt (gleich das erste ist so eines, die Handkamera nah am Mann auf der staubigen Landstraße) und gegen Ende wird es auf nicht immer interessante und sicher nicht originelle Art und Weise opak. Auf den ersten Blick näher liegende Vergleiche in interessantere Richtungen (Rivette, Raoul Ruiz, Lav Diaz) kann der Film dagegen als Ganzer doch nicht wirklich rechfertigen.
Ansonste: wo anfangen? Drei Geschichten erzählt der Film parallel. Sie ähneln sich in struktureller Hinsicht, überschneiden sich aber nie. Es geht um drei Männer, über deren Vergangenheit so gut wie nichts bekannt gemacht wird (auf den Voice-over-Kommentar werde ich noch zu sprechen kommen, muss tatsächlich so beschrieben werden: er gewährt Bekanntmachungen), die keine Namen haben, sondern einfach nur X, H und Z genannt werden. Alle drei Männer werden in ein ihnen unbekanntes Terrain versetzt und mit einer mehr oder weniger sonderbaren Aufgabe / Situation konfrontiert. Sie lassen sich, im Großen und Ganzen, auf diese neuen Situationen ein, lernen andere Figuren kennen (hauptsächlich Männer, Frauen spielen kaum - und wenn doch, dann erst in der zweiten Filmhälfte - eine Rolle), ihre wenig stringenten Entdeckungsreisen führen in die Vergangenheit, auf andere Kontinente, in verschiedene filmästhetische Modi. Narrative Tonlage ist die Mystery-Erzählung, zu Beginn allerdings mehr als gegen Ende und zwar nicht, weil die Geheimnisse aufgeklärt würden, sondern, weil sie von den Protagonisten mehr oder weniger bewusst fallen gelassen werden (wiederum: das sind Verschiebungen, die erst nach Rivette schmecken, aber letztlich mindestens auch arthausig-inkonsequent sind).
Der wichtigste Aspekt des Films ist der fast allgegenwärtige Voice-Over Kommentar. Vorgetragen wird er in ironischem Tonfall von mehreren Männerstimmen (und einmal von einer Frauenstimme). Die ersten asugedehnte Szene des Films zeigt eine mysteriöse Begegnung zwischen vier Männern und zwei Fahrzeugen. Es gibt einen Streit, es fallen Schüsse, am Ende bleibt einer tot liegen. Gefilmt in einer starren Totalen und wie alles andere mit einer grobpixeligen Digicam. Der Erzähler verdoppelt die Bewegungen im Bild, interpretiert sie vorsichtig, gibt einige Zusatzinformationen, die dem Pixelbrei alleine nicht zu entnehmen wären. Diese frühe Szene ist die einzige, in dem der Film sich an einer konventionellen "visuellen" Erzählweise versucht - und dabei sein Scheitern ausstellt. Die Bilder möchten den Worten in dieser Szene eine gleichgeordnete narrative Instanz sein, aber sie scheitern an diesem Anspruch. (vielleicht auch eine Blow-up-Inversion: die defizitären Bilder sind kein Problem der Epistemie, sondern nur noch eins der Narratologie.) Im Folgenden sind die Bilder dem Wort - der Erzählstimme - konsequent untergeordnet. Zu sehen sind meist banale Folgen von Großaufnahmen der jeweiligen Hauptfiguren, die sowohl in räumlicher als auch in zeitlicher Hinsicht unterdeterminiert bleiben. Stimmungsbilder, die der Handlung nie wider- und meistens ziemlich genau entsprechen, denen jedoch stets etwas Beliebiges eignet. Nie im Leben könnten diese Bilder - und die wenigen im Bild verankerten Dialoge - die Geschichte alleine erzählen. Die (ironisch-spielerisch-distanzierende) Erzählstimme kontrolliert den Film vollständig und zwar auch dann, wenn sie für wenige, herausgehobene Momente aussetzt und Bilder und diegetische Tonspur einzelne Plotpoints machen dürfen. Diese sind ausgestellte Unterbrechungen, unausgesprochene Aufforderungen an die Diegese, ihren Teil zum Film beizutragen nach den Spielregeln des Voice-overs.
Das filmische Bild enthält in Historias extraordinarias gerade keinen indexikalisch-ikonischen Überschuss gegenüber den rein symbolischen Zeichen des Voice-overs. Ganz im Gegenteil sind die Bilder immer schon defizitär in Bezug auf das Wort. Das Bild kann dem Wort nicht widersprechen, es kann höchstens weniger als dieses sagen, im negativ Unbestimmten da verharren, wo das Wort einerseits präzisiert, andererseits einen Konnotationsraum öffnet (natürlich ist das ein poetisches Argument, kein onthologisches).
Wozu dann die Bilder? In mancher Hinsicht (aber sicher nicht in jeder) scheinen sie sich zur Erzählung so zu verhalten, wie die Bilder eines Musikvideos zum jeweiligen Musikstück. Der Vergleich liegt schon deshalb nahe, weil Llinás immer wieder Techniken einsetzt, die eindeutig aus dem Musikvideo stammen: Splitscreen-Montagesequenzen, in denen eine imaginäre Kamera über mehrere Bewegungsbildpanel schwebt (wie man es auch in neueren Ang-Lee-Filmen gelegentlich sieht), Fotomontagen etc. Vor allem ist die Montage keine analytische. Die Analyse bleibt außerhalb der Bilder. Wie sich die einzelnen Einstellungen einer Sequenz (von Ausnahmen abgesehen und Ausnahmen gibt es in einem über vier Stunden langen Film fast zwangsläufig viele) zueinander in zeitlicher, räumlicher oder narrativer Hinsicht verhalten, bleibt mehr oder weniger irrelevant (bzw: sie verhalten sich eben gar nicht). Eine akkumulative Montage, unterstützt von der Filmmusik: Die ist ganz auf der Seite der antidramatischen Bilder, nicht auf der des dramatischen Voice-Over und besteht meist aus simplen Ambient-Klängen, die sich einander im gefühlten Halbstundentakt ablösen.

Tuesday, December 01, 2009

Goodbye Solo, Ramin Bahrani, 2008

Erst nicht ganz sicher war ich mir bei Goodbye Solo, Ramin Bahranis drittem Spielfilm. Zunächst kam es mir so vor, als machte sich Bahrani hier mit großen Schritten auf in Richtung Arthausmainstream. Nicht, weil zum ersten Mal in Bahranis Filmografie das weiße Amerika eine wichtige Rolle spielt; ganz im Gegenteil, Red Wests William hat mir von Anfang an eingeleuchtet als Ex-Harleyfahrer mit irgendwie eher jämmerlicher Tätowierung - die richtige Mischung aus Western-Pose und fast schon ausgestelltem White-Trash-Klischee, einen pickeligen Enkel an der Kinokasse gibt es auch noch, aber das war's dann auch schon. Das weiße Amerika geistert ein wenig durchs Bahrani-Kino, aber es bleibt auf Abstand und nähert sich vorsichtshalber in seiner provinziellsten Ausprägung. Vielleicht war das Problem eher, dass ich kurz zuvor Kelly Reichardts Wendy and Lucy gesehen hatte; und dass dort Michelle Williams doch etwas zu adrett-ätherisch auf den Spuren Umberto Ds durch Americana wandelt (dazu vielleicht demnächst mehr). Fast könnte man meinen, dass Bahrani die andere Hälfte dieses (natürlich: großartigen) De Sica-Films einlösen möchte: nicht den verlorenen Hund, dafür aber den (ein wenig grumpy aber liebenswerten) alten Mann.
Mit ein wenig Abstand wurde mir dann aber doch klar, dass Bahran auch diesmal wieder fast alles richtig gemacht hat. Zunächst ist der Film, an dem der Regisseur sich abarbeitet, selbstverständlich nicht Umberto D, sondern Kiarostamis Taste of Cherry, aber darauf kommt es nicht an. Goodbye Solo ist tatsächlich nicht mehr von derselben Dringlichkeit geprägt wie die beiden Vorgänger, aber das liegt lediglich daran, dass er einen systematischen Schritt weiter geht.
Sowohl in Man Push Cart als auch in Chop Shop versuchten die jeweiligen Protagonisten, die Besitzrechte an einem Fahrzeug, das gleichzeitig für Mobilität und für den Lebensunterhalt steht, zu erwerben. Solo, der Hauptfigur im Nachfolger, ist dies bereits gelungen, er ist Taxifahrer und Besitzer seines Arbeitsgefährts. Die materiellen Grundlagen für ein erfolgreiches Leben im us-amerikanischen System (eben diese: Mobilität und Geld) sind vorhanden, jetzt tauchen andere Probleme auf und wenn die Ästhetik sich bei dieser Gelegenheit ein wenig verbürgerlicht, ist das nur konsequent. Solo hat eine Familie, ein Network, eine Welt gefunden, in der er eigentlich glücklich sein und sich im weiteren lediglich um mehr von allem bemühen sollte, wenn man den Versprechen des Kapitalismus glauben könnte. Aber das kann man natürlich nicht. Dass und wie Solo doch nicht glücklich ist, verhandelt der Film - und er hält sich dabei genauso fern von den falschen Bildern wie die beiden ersten Werke.
Toll sind unter anderem wieder die kleinen Zwischenszenen: Solo während den Taxifahrten, frontal durch die Scheibe gefilmt, hinter ihm schon ein wenig in der Unschärfe die Kundschaft, kleine Geschichten deuten sich an, Alternativgeschichten, die der Film nicht verfolgt, aber verfolgen könnte.
Absolut souverän sieht dieser Film aus, deutlich ruhiger als der handkamerageprägte Chop Shop, wieder näher an Man Push Cart, aber ohne dessen manchmal doch etwas prätentiöse Teleobjektiv-Ästhetik. Eine Form, die sich tendenziell unsichtbar macht, außer in wenigen, herausgehobenen Einstellungen: Einmal löst sich Solos Silhouette, als er allein eine Straße entlang läuft, sonderbar ab vom urbanen Hintergrund: das Bild zeigt keinen materiellen Ausschluss aus einer Gemeinschaft, sondern einen Selbstausschluss als Ergebnis einer reflexiven Geste, ein Wegdriften von der Gemeinschaft auf der Suche nach Freiheit. Freiheit von den kleinkriminellen Netzwerken, in die Solo peripher eingebunden ist, Freiheit von den Familienbanden, in die er eingeheiratet hat. Die Idee eines alten, vergangenen, nicht die Realität des gegenwärtigen, neuen weißen Amerikas ist es dann, die Solos Freiheitssuche antreibt. Auch zu dieser Idee verhält sich Bahrani natürlich nicht einfach affirmativ, sie bleibt weit weg und vage, Solo weiß genau, dass er sein Glück anderswo finden muss. Willie Nelson läuft nur einmal kurz im Radio, Gangster Rap gibt's an jeder Tankstelle.
Erst recht großartig dann kurz vor Schluss die schwebende Kamera, die Freiheit kann im Leben nicht realisiert werden und im Film auch immer nur für einen Moment - schon im zweiten Moment würde sie zum filmsprachlichen Klischee werden.