Sunday, July 26, 2009

De cierta manera / One Way Or Another, Sara Gomez, 1977

Worum es im Streitgespräch am Anfang geht, kann man mangels Kontext noch nicht nachvollziehen. Kurz vor Schluss wird der Film dieses Streitgespräch identisch wiederholen, dann wird man Bescheid wissen und den Gesten und Worten gleichzeitig rückblickend und gegenwärtig Sinnzusammenhänge zuordnen können. Schauplatz ist eine Art Halle, in der sich eine Menschenmenge versammelt hat. Ein Mann steht auf und entschuldigt sich großspurig für irgend etwas, er redet über seine kranke Mutter und darüber, dass ein Mann, der sich nicht um seine Mutter kümmert, kein echter Mann sei. Anschließend erhebt sich ein anderer Mann, sichtlich erregt, beschimpft seinen Vorredner und wirft ihm Heuchelei vor. Schon hier erkennt man, dass seine Erregung zwar grundsätzlich gerechtfertigt sein mag, alleine aus der konkreten Situation heraus aber nicht ganz nachzuvollziehen ist. Es geht, kurz und gut, in diesem Gespräch nicht nur um den konkreten Anlass, sondern es geht um mehr.
Und deswegen genügt es dem Film im weiteren auch nicht, zu erklären, was es mit dem konkreten Anlass auf sich hat: eine Arbeiterversammlung in einem sozialistisch bewirtschafteten Unternehmen im revolutionären Kuba; der erste Mann hat den Arbeitsplatz unter dem Vorwand verlassen, seine kranke Mutter zu besuchen, war tatsächlich aber mit einer Geliebten auf einem pleasure trip; der zweite Mann sollte sein Alibi sein, stimmte aus Macho-Solidarität zunächst zu, hat es sich inzwischen aber anders und besser überlegt. Zusätzlich muss der Film auch erklären, was das "mehr" ist, um das es ihm auch geht. Es geht ihm um nichts weniger als um eine umfassende Gesellschaftsanalyse, die begleitet wird von einer geschichtsphilosophischen These.
Sara Gomez hat diesen Film kurz vor ihrem viel zu frühen Tod abgedreht, nach einem Drehbuch, das sie gemeinsam mit Tomas Gutierrez Alea und Julio Garcia Espinosa verfasste. Der Film vermischt Dokumentarisches und Fiktives weniger, als dass er beide Formen als getrennte Strukturen parallel laufen lässt. Im Zentrum steht die Spielhandlung um den Mann, der im Streitgespräch als zweiter spricht und eine Frau, die eine Beziehung mit ihm beginnt. Beide sind vom Bewusstseinswandel, der die Revolution für den Film vor allem anderen ist, unterschiedlich stark erfasst worden. Sie stärker als er, der er als Studienabbrecher Gefahr läuft, wieder den alten (vor allem sexuellen Rollen-)Mustern zu verfallen. Doch auch sie hat mit dem sozialen Abstieg zu kämpfen, den sie nach der emanzipationsbedingten Trennung von ihrem wohlhabenden Mann durchmachen musste.
Immer wieder greift dann eine (in der Version, die ich gesehen habe englischsprachige) Erzählerstimme ein und ergänzt in korrekt historisch-materialistischem Vokabular den historischen und sozialen Kontext, in dem die Spielszenen stehen. Bisweilen werden diese dokumentarischen Einschübe gar durch Zwischentitel vom restlichen Film abgetrennt. Außerdem interagieren die beiden Hauptfiguren mit anderen Akteuren, die in der Mehrzahl sich selbst spielen. So direkt wie nur wenige kubanische Revolutionsfilme, die ich kenne, verkettet der Film in diesen dokumentarischen Passagen ökonomische und sexuelle Ausbeutungspraktiken. Sara Gomez hebt das Faktum des real existierenden Sexismus nicht im Gerede über Haupt- und Nebenwidersprüchen auf. Im Gegenteil vertritt der Film die These, dass der historisch gewachsene und vererbte Sexismus unter Umständen schwerer zu beseitigen sein kann als ungleiche Besitzverhältnisse. Konsequenter noch als der Revolutionsklassiker Lucia erscheint mir der Film in diesem Punkt. Solas' Film zeigt eine Kontinuität von Frauenleiden, hat aber keine These für die spezielle Ausformung dieser Kontinuität.
Die dokumentarischen Passagen sind sich ihrer Sache sicher, sie skizzieren klare Fronten und eindeutige Thesen. Die Revolution erscheint folgerichtig und in ihren unmittelbar ökonomisch-politischen Zielen als eine abgeschlossene. Die fiktiven Passagen verunreinigen dieses Bild wieder, sie zeigen unfertige revolutionäre Subjekte, Rückstände des Alten, in sich widersprüchliche Konflikte. In diesen Passagen sitzt die geschichtsphilosophische These, eine, die in der bloßen Rekonstruktion der historischen Ereignisse nicht enthalten ist: Die Revolution ist nicht einfach nur eine in der Umwälzung der Besitzverhältnisse resultierende Volksbewegung, sondern in erster Linie eine Befreiung des Geistes. Sie ermöglicht es dem Individuum, "diese Welt zu verlassen", wie ein Lied ausführt, das dem Film sehr wichtig ist und dessen Titel ich leider auf die Schnelle nicht recherchieren konnte (der Freund, mit dem ich den Film angesehen habe, besteht darauf, dass das Lied um einiges komplexer ist, als ich es hier darstelle, da in dessen Text eine Doppeldeutigkeit Frau / Welt besteht; ich gehe davon aus, dass er recht hat). Die Welt zu verlassen, die den Einzelnen in seinen eigenen Beschränkungen einschließt, darum geht es Lied wie Film. Die Revolution als Bedingung der Selbstermächtigung und damit nicht als Ende der Geschichte, aber als Bedingung der Möglichkeit ihrer Beendigung. Um diesen Prozess einer Revolution-als-Selbstermächtigung darzustellen, benötigt der Film die Fiktion und ihre Freiheiten; denn idealerweise soll das postrevolutionäre Subjekt über sein eigenes Schicksal ebenso frei verfügen können, wie der Drehbuchautor über seine Figuren.

Saturday, July 18, 2009

Wienerinnen, Kurt Steinwendner, 1952

Mit dem Neorealismus wird der Film in den wenigen kurzen Texten, die ich im Netz über ihn gefunden habe, in Verbindung gebracht. Sicherlich beeinflussten die italienischen Filme die Stoffwahl oder wenigstens die soziale Situierung: Es geht um mehr oder weniger unglückliche Frauenschicksale am unteren Ende der gesellschaftlichen Hierarchie, gleichzeitig geht es um Frauen, die sich durch ein Wien bewegen, das von den Weltkriegsbombardierungen noch deutlich gezeichnet ist. Aufs soziale Panorama, auf die kategorisierende Typologie, aufs gesellschaftliche Problem, auf soziale Argumente allgemein aber will der Film nie heraus. Überhaupt scheint Kurt Steinwendner eher als ein österreichischer Cousin Rossellinis ein entfernter Verwandter Murnaus gewesen zu sein. Im Grunde ist Wienerinnen ein zu spät gekommener Stummfilm. Genauer: Ein Stummfilm, der sich mit dem Fakt des Filmtons arrangieren muss.
Die leichte Klassik, die über dem Vorspann liegt, wird von den kaputten, wüst-hypnotischen Melodien des Heliophons abgelöst, das einen Großteil des Films begleitet und man vermag sich in diesem Moment ungefähr vorstellen, was für ein Ungetüm der Film im Jahr 1955 im österreichischen Kino gewesen sein muss. Wienerinnen ist nicht einfach ein Versuch, es den Großtaten der Meisterregisseure aus dem südlichen Nachbarland gleichzutun, viel eher ist Steinwendners Film ein monolithisches und bewußt einsames künstlerisches Statement, das nicht Teil / Anhängsel einer lebenden Bewegung sein möchte, sondern in seinem offen morbiden Gestus von Anfang an die Wahlverwandschaft von Toten zu bevorzugen scheint. Gleichzeitig mit der Tonspur verwandelt sich der blendend weiße Kopf der Marmorstatue, die die Eingangsmontage des hochkulturellen, respektablen Wiens abschließt...

...in das leid- (oder jedenfalls affekt-)verzerrte Gesicht der ersten der vier "Wienerinnen", die dem Film seinen Titel geben:

Bilder wie dieses prägen den Film. Gefühlsexzesse in Großaufnahme (Gefühlsexzesse sind Großaufnahmen...), Gesichter, auf die sich ein zuviel an Empfindsamkeit einschreibt, Gesichter, wie man sie so seit dem Siegeszug des Tonfilms kaum noch im Kino gesehen hat. Den exzessiven Ton lässt das Kino nicht so ohne weiteres zu (Ausnahmen bestätigen die Regel; deren vielleicht größte: Zulawskis Possession, insbesondere die Szene an der U-Bahn) und zwangsläufig soll dann auch das Bild auf den Exzess des Gefühls, einen Exzess, der nicht mehr schweben kann, sondern durch den Ton geerdet würde, verzichten.
Wienerinnen ist, wie gesagt, zwar nicht technisch, aber doch wesenhaft, ein Stummfilm.
Der Ton ist etwas, das diesem Film von außen zustößt. Er öffnet den Film nicht, sondern verschließt ihn nur noch weiter in neurotischer Manier. Dies gilt insbesondere für die Musik, bisweilen aber auch für die Dialoge. Ganz buchstäblich von außen kommt der Ton am Anfang jeder Episode. Der körperlose Erzähler ruft die jeweilige "Wienerin" an, sie kann ihn, wie wir, zwar hören, aber nicht sehen. Mit einer Stimme, die ihren Sadismus gar nicht erst zu verstecken sucht, bittet dieser Erzähler sie, ihm ihre Geschichte zu erzählen. Sie windet sich, muss sich aber fügen (der Film kommt der Stimme zu Hilfe und erzählt die Geschichte der Frau). Einen Voice-Over-Kommentar, der sich daran erfreut, seine Heldinnen zu quälen, wann hätte es so etwas im italienischen Neorealismus geben können? (Den Film rettet in diesen Momenten gerade sein Verzicht aufs Soziale, die Misogynie bleibt immer eine des privatistischen Erzählers und fügt sich nie zum reaktionären Gesellschaftsbild.) Sonderbar verschlungene Erzählungen entspringen aus dieser Konstellation: affektüberladene Frauengesichter und die sadistische Stimme von außen. Erzählungen mit morbiden Pointen, psychopathologische Erzählungen über Psychopathologien, Erzählungen, die nur in den wenigen Momenten, in denen sie sich einer Moral annähern, ein klein wenig unehrlich wirken
Die vier Episoden schlagen in stilistischer Hinsicht unterschiedliche Richtungen ein, mir scheint aber, dass fast alle dieser Richtungen dem Stummfilm entstammen (oder zumindest dem Vorkriegstonfilm, wie im Fall der letzten Episode, die mich an den poetischen Realismus Carnes erinnert hat). Die zweite Episode etwa steigert sich in einen wilden Rauschzustand, der in einer psychopathologischen Überblendungs-Montage (komplett mit Zwischentiteln in diesem Fall sogar) resultiert, wie sie das Weimarer Kino besser nicht hinbekommen hätte können. Am schönsten vielleicht die dritte Episode, in der sich zum Exzess des Affekts und der Filmsprache einer der Narration gesellt. Eine hanebüchene Geschichte um Mord, Gefängnisausbruch und einen durchgeknallten Künstler spinnt Steinwendner da zusammen. Die Kausallogik ist am Ende, der Affekt ist nicht mehr Reaktion auf eine Situation, eher ist die Situation eine halluzinierende Projektion des wildgewordenen Affekts. Gesehen haben sollte man nicht nur diese dritte Episode.
Wienerinnen ist als Teil der Edition Standard auf DVD erschienen und im Videodrom ausleihbar. Auf der DVD findet sich außerdem Steinwendners Kurzfilm Der Rabe, eine wilde, kurze Poe-Adaption, die keine Gefangene macht.

Tuesday, July 07, 2009

The Taking of Pelham 1 2 3, Tony Scott, 2009

Die komplexen soziopolitischen Verhandlungen des Originals sind verschwunden, statt dessen: Mann gegen Mann, Profi gegen Profi, der eine ein korrupter Familienmensch, der andere ein ehemaliger Börsenmakler (der Kommentar zur Finanzkrise: was für Typen nehmen nicht einfach nur Models, sondern "ass-models" mit zum Wochenendtrip nach Island? "wall street guys" natürlich), der eher zufällig - und nicht etwa grundsätzlich - ein Rad ab hat. Beide stehen deshalb auch eher zufällig auf unterschiedlichen Seiten. Lange Zeit spielt der Film in genau zwei Räumen, dem Kontrollraum der U-Bahngesellschaft auf der einen, der Fahrerkabine der entführten Bahn auf der anderen Seite. Die Entführungsopfer kommen - auch das ein Unterschied zum Original - fast gar nicht vor. Am Anfang unterhäkt sich einer per Webcam mit der Freundin, als diese anfängt, für ihn zu strippen, fährt der Zug in den Tunnel, die Verbindung wird unterbrochen. Danach: 109 Minuten stylisches Männerkino, reduziert auf zwei Räume und zwei Gegenspieler. Daniel Kasman beschreibt das visuelle Grundprinzip der ersten zwei Drittel des Films hier sehr genau: auf der einen Seite die Kamera, die im Halbkreis Denzel Washingtons Schreibtisch abfährt, auf der anderen Seite die tendenziell (wenn auch faktisch doch eher selten komplett) starren Einstellungen, die Travolta durch die Frontscheibe der U-Bahn oft nur schematisch zu fassen bekommen. (Freilich dreht sich dieses visuelle System gleichzeitig mit der dramatischen Logik zumindest einmal um). Die Stadt selber ist nur als Flash, im super-stylischen Vorspann, später dann als kurzer kinetischer Einschub, aufgehoben in Scotts painterly expressionism (der Hubschrauber, der in einer freeze-frame-Serie über den Wolkenkratzern schwebt, das Motorrad, das frontal auf den PKW knallt, der LKW, der frontal in den Polizeiwagen kracht), im Bild. Noch nicht einmal mehr dekonstruiert werden muss dieser urbane Raum vom Film; er ist es von Anfang an. Wie soll es auch anders bestellt sein um eine Stadt, die von James Gandolfini regiert wird. Der ist nicht die Witzfigur aus dem Original, sondern genauso postheroisch wie alle anderen Figuren des Films. Er sitzt dann mit Denzel Washington zwischen den Bildschirmen (wie bilderlos war doch die Welt im Jahr 1974, die Multiplikation der Bildschirme ist vielleicht die wichtigste Veränderung zwischen den beiden Filmen) und betreibt Realpolitik für eine soziale Totalität, die sich völlig abgelöst hat vom Individuum, die ganz und gar systemisch geworden ist. Nicht postindividualistisch ist das, was Tony Scott da entwirft, eher postsozial, kein Milieu, keine Identitätspolitik, keine Geschichte. The Taking of Pelham 1 2 3 ist sicherlich nicht Tony Scotts bester Film, aber interessant ist er in jedem Fall.

Friday, July 03, 2009

Un lac, Philippe Grandrieux, 2008

Wie der kleine Junge auf den Schultern seines Bruders (?) sitzend über den zugefrorenen See getragen wird, wie die Kamera an sein Gesicht im heranfährt, wie dieses Gesaicht dem kalten Wind trotzt und offen bleibt für Sinneseindrücke aller Art (der Bruder (?) ruft in den Wald hinein, während er den Kleinen trägt - warum ruft er?): Vielleicht ist das das Bild, in dem Un lac sich selbst figuriert als eine möglichst-aber-doch-nie-ganz unmittelbare Erfahrungsform, als eine Erfahrungsform eben, die zwar auf ein Minimum an Distanz aus ist, die aber gleichzeitig nicht auf eigenen Füßen steht, sondern sich leiten lässt. Das Publikum gedacht als Kind? Wie bei Metz? Oder, anders und viel interessanter, wie bei Cavell? Vielleicht figuriert der Film in dieser Szene aber nicht nur sich selbst, sondern das Filmen überhaupt. Der Bruder ist Grandrieux, der Kleine die Kamera, eine Kamera, deren kindlichen, unmittelbar somatischen (photochemischen?) Kontakt mit der Welt der Film fürs Kino, das gefangen ist nicht nur in seiner Syntax, sondern schon im mimetischen Prinzip selbst (nicht: im fotografischen, Un lac bleibt gerade im Angriff auf das mimetische Prinzip strikt fotografisch), zurückgewinnen will. Auch das befriedigt nicht ganz, denn ein rein regressives Kino ist das grandrieuxsche nie. Kamera / Kind filmt nur, was Grandrieux will und was der will, das bleibt stets hinreichend erratisch, gesucht wird im eben auch präsprachlichen (dieser Aspekt regt mich dann doch immer wieder auf, nicht nur bei Grandrieux, sondern in weiten Teilen des Kinos der Sensation) nie, nicht einmal im Wald, die Vereinfachung, die Rückführung des Sozialen aufs Kreatürliche (das Soziale bleibt als zwischenmenschliches, wenn auch nicht als politisches und es bleibt problematisch, wird zwar transformiert, schwindet aber nicht). Aber was sucht der Film dann?