Tuesday, June 02, 2009

10-40-70: Kokoro, Kon Ichikawa, 1955

Nicholas Rombes (hier eine Ankündigung seines Buches Cinema in the Digital Age) analysiert seit einiger Zeit in seinem Blog Digital Poetics Filme anhand dreier Filmstills, die der 10m-, 40m- und 70m-Marke der jeweiligen DVD-Veröffentlichung entnommen sind. Da ich bereits länger darüber nachdenke, wie ich in dieses Blog Bilder sinnvoll integrieren kann, übernehme ich kurzerhand Rombes' Konzept.

Kokoro, Kon Ichikawa, 1955
10m


Der Schriftsteller Nobuchi mit Bierglas in der Hand, sein "Schüler" (dass das Verhältnis zwischen beiden mit dieser Bezeichnung nicht ganz korrekt dargestellt wird, ist entscheidend für den Film) Hioki neben ihm, ihn von der Seite anblickend. Im Vordergrund die Bierflasche. Bierflasche und Bierglas rahmen Hioki ein. Die Hand am Bierglas könnte auch die von Hioki sein, dann würde es sich um eine in die Tiefe hinein komponierte Sequenz handeln. Doch Ichikawa komponiert in Kokoro in den entscheidenden Sequenzen nicht in die Tiefe. Menschen sitzen / stehen nebeneinander. Die Kamera betont horizontale und diagonale Konnexe, hier über zwei parallele Linien: Nobuchi-Hioki und Bierglas-Bierflasche.
Zwei Gläser, zwei Männer, aber nur eine Flasche. Der Tisch wird zur zweiten Bühne, in der ersten Einstellung platziert eine Kellnerin die Beteiligten: Glas, Flasche, Glas, Erdnussschale, anschließend folgt ein establishing shot von schräg oben. Hioki und Nobuchi trinken in der gesamten Szene, die mehrere Minuten dauert und sie schenken sich gegenseitig ein. Direkt neben der Bierflasche ist der obere Rand von Hiokis Glas zu sehen, die Erdnussschale ist hinter der Tischkante verschwunden. Erst am Ende wird die zweite Bühne, die Thekenoberfläche, wieder sichtbar. Hioki möchte, nachdem Noguchi aufgebrochen ist, noch einmal Bier nachfüllen, doch die Flasche ist leer. Zögernd bewegt er seine Hand zu Nobuchis Glas, doch dann greift er statt dessen zu den Erdnüssen.
An der 10m-Marke hat sich das Figurendrama den Tisch und seine Mikrodynamik völlig zu eigen gemacht. Dass Nobuchi und Hioki während des Gesprächs über Nobuchis Frau Bier trinken, fällt kaum noch auf. Das Literarische (Kokoro ist eine Natsume-Soseki-Verfilmung) heftet sich an Figuren und Dialoge, zu selten an Dinge. Umso seltsamer die fast bedrohliche Rahmung, die sich um Hiokis Gesicht legt.

40m


Nobuchi am Schreibtisch. Verglichen mit der 10m-Marke ist die Einstellung um genau 180° gedreht, die Logik des Bildaufbaus ist wiederum eine diagonale. Einzig der Schatten der Schreibfeder auf dem hinteren Teil des Schreibtisches stürt die Anordnung, die sich ansonsten als eine Sequenz parallel geodrneter Linien beschreiben ließe. Gewandelt hat sich in erster Linie die Blickachse der Kamera. Die Aufsicht ist eine auf die Schreibutensilien, auf das Handwerkszeug des Schriftstellers. Bis auf diesen einen Schatten ist dieses Handwerkszeug perfekt funktional ausgerichtet auf den Schriftsteller (nicht: auf die Kamera).
In der Filmhandlung enthält das Papier, das vor Nobuchi liegt, einen Brief an Hioki. Der Brief an den Schüler wird eine Erinnerung und über die Erinnerung eine Rückblende auslösen, die eine ganze Stunde und damit die Hälfte der Filmlaufzeit in Anspruch nehmen wird.
Der Blick Nobuchis richtet sich auf etwas jenseits des Geschriebenen. Der Film nimmt diesen Blick auf (die nächste Einstellung ist eine Großaufnahme seines Gesichts) und wechselt in die Vergangenheit. Die Spannung zwischen geschriebenem Wort (der Vorlage) und filmischer Imaginationskraft (Ichikawas) durchzieht den gesamten Film. Hier, in einer der wenigen Szenen, in der das geschriebene Wort Bild wird, nimmt sie etwas plump die Gestalt eines Schattens an, der sich bildkompositorisch schief über einen Bogen Briefpapier legt. Was die Einstellung aber anerkennt: Die perfekte Instrumentalisierung des Handwerkszeugs gehört der Literatur, der Film muss sich mit dem Unreinen zufrieden geben.

70m


(Und schon treffe ich auf einen gravierenden Nachteil des rombesschen Systems...) Mitten in der Rückblende: Der Rücken ist der Nobuchis. Er verfolgt seinen Jugendfreund Kaji, der einige Meter vor ihm auf dem Weg läuft. Nobuchi und Kaji ziehen sich an, stoßen sich ab, anders als mit Hioki kann Nobuchi mit Kaji kein stabiles Verhältnis etablieren. Nicht im Bild, nicht im Leben. Wenn Nobuchi mit Hioki spricht, muss sich die Kamera nicht bewegen, der Schnitt liefert unterschiedliche Perspektiven. Wenn Nobuchi mit Kaji redet, bewegen sich die Gesprächspartner selbst, sie stolpern, fliehen, holen ein, mustern sich kurz und hasten weiter, die homoerotische Spannung beginnt im ersten Bild der Rückblende und endet im Tod Kajis. Die Kamera kann nicht sortieren, sondern muss registrieren: Hier den Rücken Nobuchis in einem Schwenk. Auf den ersten Blick seltsamerweise verhält sich die Kamera ausschließlich in den Rückblenden zum Geschehen wie zu einem Gegenwärtigen, während des restlichen Films sucht sie eine analytische Distanz. Freilich ist die Rückblende ja tatsächlich eine vergegenwärtigte Erinnerung. Insofern müsste der Film sich eher für den Modus der "gegenwärtigen" Bilder rechtfertigen. Rechtfertigen auch deswegen, weil filmische Grammatiken weniger selbstevident sind als sprachliche.

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