Friday, December 12, 2008

Kein Platz für Ağa

Züğürt Ağa, Nesli Çölgeçen, 1985

Ein Ağa ist, wenn ich das richtig verstanden habe, Bürgermeister und Lehnsherr in einer Person. Der Titel entstammt eigentlich dem osmanischen Reich und wurde dort von militärischen und zivilen Würdenträgern verschiedener Ränge geführt. Offiziell abgeschafft im Jahr 1934 überlebte er in der modernen Türkei informell überall dort, wo die feudalen Besitzverhältnisse bestehen blieben.
Der Ağa in Züğürt Ağa herrscht über ein kleines Dorf im Südosten der Türkei. Am Anfang ist alles eitel Sonnenschein, beziehungsweise Paternalismus der alten Schule. Der Ağa ist nicht nur Dorfbesitzer- und vorsteher, sondern gleichzeitig trotz eher schmächtiger Gestalt Ringkämpfer und wird als solcher während der Kämpfe von seinen Untertanen pflichtschuldig bejubelt. Und er gewinnt natürlich auch, obwohl der sportliche Wert dieser Siege fragwürdig ist, schließlich bekäme ein Triumph seinem jeweiligen Kontrahenten schlecht.
Noch ist alles eitel Sonnenschein, wie gesagt. Etwas zu viel Sonnenschein freilich und zu wenig Regen, weshalb ein Imam aktiviert wird, der für Regenwasser beten soll. Mehr als eine winzige Wolke, die per Rückprojektion über den ansonsten glänzend blauen Himmel zieht (die archaischen special effects wirken in dem ansonsten technisch sehr ordentlich produzierten Film etwas anachronistisch) springt dabei jedoch nicht heraus. Der Imam verfolgt sowieso eigene Interessen und verkauft Grundstücke im Paradies an die Dorfbewohner gegen Wählerstimmen.
In der ausführlichen Exposition ist das größte Problem des Ağa die Geilheit seines Vaters, welcher bei jeder Gelegenheit lautstark seinen Wunsch kundtut, seine Gemahlin zu verlassen, um wieder mit jungen Frauen schlafen zu können. Der Ağa selbst flirtet zwar auch lieber mit der jungen Kiraz, als mit seiner Frau zu schlafen - was man ihm kaum vorwerfen kann, schließlich bezeichnet sogar diese selbst den ehelichen Sex als "Ringkampf" -, ist geschlechterpolitisch aber eher liberal unterwegs, zumindest gemessen an den realen Verhältnissen in seiner Umgebung. Auch als Ganzes positioniert sich der Film in vielen Disursen, von Religion bis Feminismus, liberal-humanistisch. Mehr als diese im Detail dann doch oft fragwürdige Ideologie (beispielsweise sind die Frauen im Film eigentlich fast ausschließlich damit beschäftigt, sich im Bildhintergrund gegenseitig an die Gurgel zu gehen) interessieren mich an Züğürt Ağa die eher impliziten Aspekte seines Gesellschaftsbilds, und die finde ich, wie es sich für einen ordentlichen Salonmarxisten gehört, natürlich im Bereich der Produktionsverhältnisse.
Nach der Exposition bricht die Sozialstruktur des Dorfes mit erstaunlicher Konsequenz und Radikalität zusammen. Weil Züğürt Ağa kommerzielles Kino ist, beginnt alles auf der symbolischen Ebene: Ein Ringkämpfer wurde nicht hinreichend bestochen und macht den Ağa gnadenlos platt. Noch sind die Dorfbewohner zwar loyal und jagen den Sieger gemeinsam zum Teufel, doch fortan geht alles schief. Denn weil Züğürt Ağa gutes kommerzielles Kino ist, beschränken sich die Veränderungen nicht auf die symbolische Ebene. Es geht Schlag auf Schlag. Der Vater stirbt, die Ernte ist mieß, die Dörfler gehorchen bei der Wahl nicht der eigentlich verbindlichen Empfehlung ihres Ağa und wählen statt dessen wegen der Grundstücke im Paradies den Kadidaten des Imams (vielleicht ist in dieser Entscheidung schon prophetisch der Elitenwechsel von den Kemalisten zu den Islamisten vorgezeichnet, der in der realen Türkei erst ein Jahrzehnt später einsetzte), daraufhin kürzt der Ağa ihnen die Getreideration, was die Bauern wiederum dazu veranlasst, die Scheune zu stürmen und mit der Beute nach Istanbul durchzubrennen.
Das alles ist in humorvolle Vignetten verpackt, die jedoch nie die fast mechanische und selbst im Detail folgerichtige Dynamik der Destruktion einer ganzen Wirtschaft- und Gesellschaftsordnung, die sie antreibt und der sie Bilder leihen, verleugnen können, oder auch nur wollen. Bald steht der Ağa vor den Trümmern seines feudalistischen Paradieses und verkauft es alsbald an den Höchstbietenden. Auch er macht sich auf nach Istanbul.
Hier, in Istanbul, spielt der zweite Teil des Films. In Istanbul ist alles anders. Züğürt Ağa postuliert einen ähnlich radikalen Bruch zwischen Land und Stadt wie Yilmaz Güneys Meisterwerk Sürü. Natürlich verklebt der Mainstreamfilm Züğürt Ağa die beiden Filmhälften auf der Ebene des Genres - durch ein rührseliges Melodram um Kiraz etwa -, wo Güney und sein Regisseur Zeki Ökten den Bruch auf allen filmischen Ebenen suchten. Die soziale Erfahrung, von der die Filme berichten, ist aber erkennbar dieselbe. Çölgeçen hat sehr wohl einen Begriff von dieser Erfahrung und er vermittelt sie auch, obwohl nicht als Begriff.
Für die Komik sorgt jetzt der Ağa selbst, nicht mehr sein Vater. Für letzteren wäre in Istanbul sowieso kein Platz, doch auch sein Sohn tut sich schwer. Geschäft um Geschäft geht vor die Hunde, bald müssen die Möbel verkauft werden und die Ehefrau wird immer ungeduldiger.
Der Ağa trifft in der Stadt auf seine ehemaligen Untergebenen. Als er ihr Cafe betritt, funktionieren die alten Reflexe, aber sie sind nur noch nutzlose Muskelerinnerung, nicht mehr die Verkörperlichung der Produktionsverhältnisse. Statt dessen kollidieren sie mit der großstädtischen Dingwelt (die macht dem Ağa sowieso, auch darin ist der Film ganz kommerzielles Kino, am meisten zu schaffen in der neuen Umgebung). Wie in der Heimat möchten sie sich im Halbkreis um ihren Boss herum aufstellen, aber im engen Cafe will das nicht so recht funktionieren. Im Stühleklappern manifestiert sich ein qualitativer Sprung.
Die Unterwerfung ist sowieso nur noch Charade und wird bald aufgegeben. Die Anpassung an die neuen Verhältnisse ist eine asymetrische. Der Paternalismus des Ağa überlebt länger als die Loyalität seiner ehemaligen Untertanen. Doch seine wohlwollenden Gesten sind nicht mehr die symbolische Belohnung für die realen Leistungen der Untergebenen, sondern gehen ganz im Gegenteil dem Ağa ganz real an den Geldbeutel, während er sich umgekehrt von nur noch symbolischen Unterwerfungsgesten(und selbst die verschwinden, wie gesagt, alsbald) nicht ernähren kann.
Das Ergebnis ist gleichzeitig flüssig erzähltes, lustiges und technisch gutes kommerzielles Kino (inklusive, das sei nebenbei angemerkt, einem schönen funky Leitmotiv auf der Tonspur) und das nachvollziehbare, erstaunlich komplexe Selbstbild einer Gesellschaft, die bis heute stark von sozialen Ungleichheiten und Ungleichzeitigkeiten geprägt ist. Ideologische blinde Flecken gibt es natürlich auch (welcher Film hat die nicht?) und zwar nicht zu knapp, aber Züğürt Ağa scheint doch auf einer ganz fundamentalen Ebene sehr ehrlich über die Gesellschaft nachzudenken, aus der er entstammt.

6 comments:

Sarah said...

ah, gestern auch im arsenal gewesen...

Lukas Foerster said...

ja, da werde ich die nächsten Tage noch öfter sein...

Sarah said...

dito

Lukas Foerster said...

kannst Du was empfehlen? Demirkubuz heute hat mir nicht so recht zugesagt, danach hatte ich keine Lust mehr

Sarah said...

ich habe heute den ceylan gesehen, hat ein paar sehr starke momente, läuft am dienstag nochmal. yazi tura (kopf oder zahl) habe ich vor ein paar jahren mal gesehen und ist mir in guter erinnerung geblieben. wollte mir am mittwoch beide türkischen filme anschauen.

Lukas Foerster said...

Mittwoch komme ich auch, wenn ich es auf die Reihe bekomme