Wednesday, September 03, 2008

Serras da desordem / The Hills of Disorder, Andrea Tonacci, 2006

Zu Beginn ist Carapiru alleine im Dschungel. Körnige Schwarz-Weiß-Bilder zeigen, wie sich der alte Indianer ein Lager aus großen Blättern baut. Schätzungsweise zehn Jahre lang hat Carapiru einsam im Dschungel gelebt, nachdem er das Massaker an seinem Stamm überlebt hat. In Tonaccis Film, der sich mit ganz unterschiedlichen Mitteln Carapiru nähert, seiner Vergangenheit wie seiner Gegenwart, bleibt diese Zeit des einsamen Kampfes gegen die und mit der Natur im Dschungel größtenteils Leerstelle. Einzig die ersten paar Minuten (sowie kurze Allusionen ganz am Ende des Films) verweisen auf diese Phase, die Carapiru womöglich stärker prägte, als jede andere seines Lebens, die aber dem Film nicht zugänglich wird, vielleicht, weil Film für Tonacci ganz grundsätzlich ein Medium des Sozialen ist.
Serras da desordem ist ein Dokumentar- und gleichzeitig ein Zeitreisefilm. Zunächst, nach den ersten einsamen Minuten im Dschungel, unternimmt der Film eine minutiöse Rekonstruktion eines Lebens nicht jenseits der Geschichte aber doch jenseits des okzidentalen Geschichtsverständnisses. Nun in Farbe, mit Hilfe einer sehr beweglichen Kamera, die auf körperliche Unmittelbarkeit zielt, reinszeniert Tonacci Carapirus Leben vor dem Massaker durch die Weißen. Frei und flüssig nähert sich die Kamera den Indianern, wie sie ihrem Tagwerk nachgehen, den spielenden Kindern, den Tieren und Pflanzen um sie herum. Die Gespräche der Indianer werden nicht untertitelt,dadurch entsteht eine sonderbare Mischung aus körperlicher Nähe und diskursiver Distanz, beides ins Extrem getrieben und nicht gegeneinander aufrechenbar. Auch später im Film werden die indianischen Dialogsätze nicht übersetzt, die Distanz bleibt aufrecht, dennoch zeigt Tonacci oft sprechende Indianer, nicht immer bin ich mir sicher, ob die Weigerung, den Sinn der Worte erschließbar zu machen, wirklich eine Geste des Respekts ist - eine solche soll sie ohne Zweifel sein -, ob darin nicht manchmal eine dem Film ansonsten ganz unangemessene Diskursverweigerung steckt, die implizite Schließung eines historischen Prozesses, der ansonsten bei aller Brüche und Diskontinuitäten Prozess bleibt. Hier, in dieser grandiosen Anfangsszene, ist der Verzicht auf Semantisierung durch Sprache jedoch ganz und gar folgerichtig, eine Untertitelung könnte den Bildern und Tönen (Bilder und Töne jenseits des Untertitels, weil jenseits aller Kulturtechniken, die Untertitel und Untertitelähnliches unabdingbar machen) nichts hinzufügen, aber viel nehmen.
Serras da desordem ist ein Dokumentarfilm, der genau weiß, dass die Wirklichkeit sich nicht schon dadurch preisgibt, dass man die Kamera auf sie richtet und wartet. Serras da desordem ist ein Film der Konstruktion. In die konstruierte Fremdheit, die gleichzeitig absolute Nähe ist, (die Spiele der Kinder im Dschungel sind die Spiele der Kinder in den Städten, je länger der Film die Kinder beobachtet, desto mehr erschließen sich auch die Handlungen der Erwachsenen als Erkannte, am eigenen Körper nachvollziehbare, wodurch im Umkehrschluss auch das Trennende deutlicher hervortritt, als etwas dem Menschen an sich Äußerliches und darum umso Brutaleres / Brutalisierendes) lässt Tonacci eine Eisenbahn einfahren. Sie fährt auf die Kamera zu, füllt die komplette Leinwand aus, bricht mit derselben Konsequenz und Härte in den Film ein, wie die britischen Schiffe es in The New World tun. Viel später im Film wird Carapiru selbst in einem solchen Zug sitzen und aus dem Fenster in den Regenwald hinein schauen.
Mit der Eisenbahn bricht die Geschichte in den Film ein. Ganz wörtlich ist das zu verstehen, im Folgenden montiert Tonacci historische Filmaufnahmen der Regenwaldkolonisation mit zeitgenössischen Spielfilmen und selbst gedrehtem Material. (Vor allem der Wechsel vom Farbbild zum schwarzweissen funktioniert, wie noch öfters im Film, als Geste der Historisierung, ebenso wie der umgekehrte Wechsel einer hin zur Unmittelbarkeit, eine Geste der Vergegenwärtigung ist.) Das Massaker an Carapirus Stamm setzt sich aus heterogenen, historisierbaren Bildquellen zusammen, der Film hat seine Unschuld verloren.
Serras da desordem öffnet sich dem gesamten Bildarsenal der Gegenwart und der Vergangenheit, am eindrücklichsten in einer Montagesequenz, die wenig später folgt und die gesamte Koloniserungs- und Industrialiserungsgeschichte Brasiliens in einem apokalyptischen Feuerwerk zelebriert, von den Minenarbeitern und Urwaldrodungen der Anfangsjahre bis zum Karneval und den Fußballweltmeisterschaften der Gegenwart. Diese Montagesequenz ist angelegt als Antwort auf das reinszenierte Indianerleben, das von ihr in jeder Hinsicht verschieden ist, weil sie im Gegensatz zu diesem eine Geschichte darstellt, die eine Geschichte außerhalb des Menschen selbst ist und diesen von außen affiziert (und einspannt in massenornamentalen Veranstaltungen, deren strukturelle Nähe zur Fließbandproduktion der Film eindrucksvoll und ganz und gar nicht unzulässig didaktisch herausarbeitet). Doch noch mehr dringt in diesen, in seiner Ambition bisweilen nicht nur ein wenig wahnwitzigen Film ein. Der Titelschriftzug, der erst ungefähr nach einer halben Stunde auftaucht, verweist direkt auf Apocalpyse Now, ein Filmzitat, das am Ende noch einmal aufgegriffen wird und das gesamte Werk einklammert, als lose Klammer freilich, auf eine Weise, dass nicht hinter jedem Weißen gleich die Fratze von General Kurtz lauert.
Im Folgenden nähert sich Tonaccis Film dem klassisch dokumentarischen Modus an. Der Film bleibt dabei jedoch dauerhaft auf zwei Ebenen: In der Gegenwart folgt Serras da desordem Carapiru auf einer Reise, die dieser vor einigen Jahrzehnten schon einmal angetreten hat. Aus dem Urwald, der nicht Darstellbar ist, hinaus, zuerst in eine kleine Dorfgemeinschaft, die den Neuankömmling zuerst jagt, dann aber freundlich aufnimmt und später nur sehr ungern ziehen lässt in die Stadt, wo er bei einem ebenfalls freundlichen, aber weniger offenherzigen Ethnologen unterkommt und diesem als Forschungsobjekt dient. Schließlich zurück zum Überrest seines Stammes, der sich am Rande des Dschungels niedergelassen hat und ein reichlich hoffnungsloses Leben zwischen dem Abfall der Zivilisation und den Überresten des verlorenen Zugriffs auf Natur führt, nur noch selten nackt oder in Stammestracht, sondern gekleidet in Lumpen, die vermutlich den Altkleidersammlungen der Städter entstammen. Ganz am Ende dann der nochmalige Abschied in den Regenwald, von dem alle Beteiligten wissen, dass er nicht ganz ernst gemeint sein kann.
Bisweilen arbeitet Tonacci auch hier mit Reinszenierungen, meistens jedoch bleibt der Film ganz in der Gegenwart, die Vergangenheit ist vor allem als Erzählung präsent sowie durch zahlreiche Fotografien, die Carapiru auf seiner ersten Reise in den 60er / 70er-Jahren zeigen, manchmal auch durch Filmausschnitten, die seinerzeit die Entdeckung des Massakerüberlenden - um den sich sogar eine kleine Seifenoper entspannt, als ein weiterer Indianer auftaucht, der durchaus glaubwürdig behauptet, Carapirus Sohn zu sein - begleiteten.
So ist denn Serras da desordem mehr ein Film über Geschichte, oder vielleicht ein Film über die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten von Geschichtsschreibung, als ein ethnografischer Film im strengen Sinne, obwohl er ein solcher natürlich auch ist. Freilich richtet sich der ethnografische Impetus in gleicher Weise auf alle Menschengruppen, mit denen Carapiru Kontakt aufnimmt auf seinen zwei parallelen Reisen, auf die Indianer ebenso wie auf die Dorfbevölkerung und die Städter (diese werden unter anderem bei einer Familienmahlzeit gezeigt, die geframt ist wie unendlich viele ähnliche Szenen in Spielfilmen über die sich selbst entfremdete Bourgeoisie). Interessant für den Film sind nicht nur die Handlungen als solche, sondern auch und vor allem deren Spiegelungen / Brechungen in anderen Zeiten, an anderen Orten, auch in anderen filmästhetischen Modi (Reinszenierung vs dokumentarischer Blick vs Zeitdokument), interessant ist für den Film vor allem die Handlung, die gleichzeitig in der Gegenwart und in der Vergangenheit stattfindet und sich dadurch selbst kommentiert.
Serras da desordem ist ein Film von epischen Proportionen (und über zwei Stunden Länge), das Mammuthprojekt eines Regisseurs, der seit seines legendären Spielfilmdebüts Bang Bang aus dem Jahr 1970 wenig von sich hören hat lassen. Jahrelange Arbeit und unendlich viel Reflektion stecken in Serras da desordem, außerdem (wie der Abspann zeigt) das Geld von wahrscheinlich so ziemlich jeder brasilianischen Kulturorganisation, die auch nur ein paar Real für ein solches Projekt locker machen kann. Es ist nicht weniger als eine Schande und ganz und gar unglaublich, dass dieser ebenso wahnwitzige wie großartige Film außerhalb Brasiliens kaum für Aufsehen gesorgt hat. Vielleicht ist der Grund darin zu suchen, dass an der Produktion zwar viele verschiedene, aber eben (zumindest fast) ausschließlich brasilianische Organisationen beteiligt waren, nicht jedoch die klassischen Mäzenen des world cinema. Vielleicht auch darin, dass Andrea Tonacci in vielem ein Kind einer anderen Zeit ist und letzten Endes zuallererst ein Modernist. (Nicht immer gereicht das dem Film zum Vorteil, die offen selbstreflexive Geste am Ende etwa, wenn Serras da desordem noch einmal ein Making-Of seiner großartigen Eingangssequenz anfügt, um dem eventuellen Eindruck falscher Authentizität entgegenzutreten (diese falsche Authentizität ist ja in Wahrheit schon lange nicht mehr die größte Gefahr für den Dokumentarfilm, der hat ganz andere, fast entgegengesetzte Probleme, man denke nur an Standart Operating Procedure), diese Geste ist schlichtweg überflüssig und auch die häufigen Wechsel zwischen Farb- und Schwarzweißmaterial rechtfertigen sich selbst nicht immer.)
Doch wie auch immer und wie gesagt ist und bleibt es eine Schande, dass Tonaccis Werk die Entdeckung durch die Cinephilie vobehalten blieb. Letzten Endes liegt es vielleicht daran, dass Serras da desordem ein Werk des Diskurses ist und keines der Transzendenz, die im world cinema in den letzten Jahren wieder ganz vehement auf den Plan getreten ist. So lieb mir beispielsweise Allonsos Los muertos als der vielleicht quintessentielle Dschungelfilm der transzendentalen Schule auch ist, gegen Tonaccis Meisterwerk, das noch in seinen Fehlern mehr wagt als meinetwegen auch Bruno Dumont es in seiner gesamten Karriere getan hat, verblasst er in meiner Erinnerung in Minutenschnelle, verwandelt sich in eine nette Wandtapete des Gedächtnisses, während er sich auf die Substanz des Denkens an sich ganz im Gegenteil zu Serras da desordem nicht ein bisschen einlässt.
Bevor das hier endgültig in Filmpolitik abgleitet (auf eine Instrumentalisierung für eine solche möchte ich Tonaccis Film nun wirklich nicht reduziert wissen) folgt hier nur noch der Hinweis, dass Serras da desordem am 13.9. im Kino Arsenal zu sehen ist.

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