Friday, July 07, 2006

Kairat, Darezhan Omirbayev, 1992

Omirbayevs Film wird wie kaum ein anderer von Blickstrukturen bestimmt. In der Eröffnungssequenz befindet sich der titelgebende Kairat auf dem Schnittspunkt zweier Blickachsen, die immer wieder aufs neue den Raum zerteilen und schließlich Kairat markieren, woraufhin er - obwohl unschuldig - bestraft wird. Im folgenden entspringen einzelnen Kopfbewegungen immer wieder mechanisch Point of View Shots nach allen Regeln der Kunst, gemessen an der Norm des Erzählkinos allerdings viel zu häufig, immer wieder ähnliche Bildfolgen fast im Sekundentakt. Und das was angeschaut wird, ist selten direkt bedeutungstragend.
Mit der Zeit lösen sich die klaren Blickfolgen ebenso auf wie alle zeitliche, räumliche und kausale Zuordnungen, die zu Beginn noch recht gefestigt erscheinen. Die Grenzen zwischen Traum und Realität verschwinden, Kairat scheint eher einer assoziativen Logik, die sich an einigen wenigen Schauplätzen und fast zufälligen, jedoch sehr materiellen Gesten und Motiven orientiert - dem Steinwurf eines Kindes, Kreidespuren an der Wand, die die Bewegung der Züge nachzuahmen scheinen und ebenso wie diese keinen wirklichen Fluchtpunkt zu besitzen scheinen -, zu gehorchen und doch bleibt der Film immer im trist gezeichneten postsovjetischen Kasachstan gefangen. Auch die Tonspur: Teilweise wohl erzwungen durch ein niedriges Budget verstärkt die Soundkulisse - und vor allem die Geräusche, die stellenweise derart offensichtlich "schlecht", bzw antirealistisch nachsynchronisiert werden, das Absicht zu unterstellen ist - den traumartigen Charakter der mehr und mehr verschwindenden Handlung.
In der Tat scheint Kairat, analog der deleuzeschen Definition Jahre vorher, ein tranceartiges Erleben nachzuempfinden, welches extrem lokal gebunden bleibt und dennoch nie ein nationales oder regionales Kollektiv in den Blick nimmt, sondern die Wahrnehmungswelt eines Individuums auch in den konkret filmischen Mitteln zu erfassen versucht - eben durch Blickstrukturen, fast rhythmische Montage und den personalisierten Klangraum.
Auch das Produktionsumfeld passt in die Deleuzesche Theorie, stammt der Film doch aus dem riesigen, jedoc fast menschenleeren Kasachstan, einem ethnisch wie religiös heterogenem Land, das sich abseits aller westlichen Nachrichtenbilder in einer scheinbar unsichtbaren Weltregion an einer speziellen Form der marktwirtschaftlichen Aurokratie nach dem Vorbild der Nachbarn Russland und China versucht.
Doch inwieweit ist ein Film wie Kairat - oder jeder Film, der Deleuze' Beschreibung entspricht - mit dem Attribut "politisch" sinnvoll beschrieben? Nicht nur die textuelle Ebene ist hier problematisch - entweder ist der Film in seiner Struktur tranceartig und "sagt dadurch etwas aus", was nur durch Interpretation erschlossen werden kann, was angesichts eines "abwesenden Volkes" schwer möglich sein dürfte oder die Trance überträgt sich auf die Zuschauer, was ebenfalls nicht der Sinn der Sache sein dürfte - sondern auch die Distribution. Auf den Filmfestivals dieser Welt (Kairat startete nicht einmal in Cannes, sondern in Locarno und Toronto) kann dieser - natürlich trotzdem großartige - Film so oder so nicht viel Schaden anrichten.

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